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192 - Nah und doch so fern

192 - Nah und doch so fern

Titel: 192 - Nah und doch so fern
Autoren: Stephanie Seidel
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und endlich – endlich! – drang er zu ihm durch. Nur für einen Moment, doch es reichte, um den Schamanen so lange festzuhalten, bis Daa’tan an ihm vorbei war.
    Grauenvolles Gebrüll scholl durchs Wellowin, als die Bestie in den Knochen ihren toten Gefährten erkannte. Grao’sil’aana geriet ins Stolpern und fiel. Immer schneller, immer näher kamen die alles erschütternden Tritte.
    Wumm-Wumm-Wumm…
    Grao’sil’aana schaffte es nicht, hochzukommen. Der Boden zitterte wie bei einem Erdbeben, Gestank überall, Dunkelheit.
    Er hörte Daa’tan schreien: »Grao! Steh auf! Bitte!«
    Im nächsten Moment fühlte er sich brutal gepackt und hochgerissen. Es war, als besäße die Bestie mehrere Zungen, die sich wie Riesenschlangen um seinen Körper wanden. Sie pressten ihm die Luft aus den Lungen, transportierten ihn aufwärts. Immer höher.
    Noch höher.
    Etwas tippte an seine Schulter, leicht wie ein Finger.
    Grao’sil’aana wagte ein Blinzeln aus verkniffenen Lidern – und riss die Augen auf. Daa’tan hing neben ihm in Thgáans Tentakeln und knurrte: »Deinetwegen bin ich total verschrammt! Der blöde Rochen hat mich über den Boden geschleift beim Versuch, dich zu packen! Ich hatte doch gesagt: Steh auf!«
    ***
    Zwei Stunden später
    Schweigen lag über der mondhellen Ebene rings um den Uluru. Sträucher und Pflanzen hatten ihre Blüten geschlossen, und vom surrenden, brummenden Insektenheer waren nur noch die Nachtfalter unterwegs, auf lautlosen Flügeln. Manchmal heulten Dingos in der Ferne, und wenn der Wind die Richtung wechselte, ging ein Rauschen durch das meterhohe Savannengras wie Meeresbrandung.
    Wer es nicht besser wusste, hätte glauben können, die Gegend sei verlassen. Doch das stimmte nicht. Der Boden hier war Anangu-Land, und auch wenn man die dunkelhäutigen Diener des Finders nicht sehen konnte, sie waren da! Sie und ihre nebelfauchenden Mammutwarane, ihre Dornteufel und ihre Waffen.
    Die größte Gefahr aber stellte das Unsichtbare dar, jene fremde Macht im Uluru, der dunkel und geheimnisvoll aus der Landschaft aufragte.
    Nur ein paar Meilen von ihm entfernt brannte ein einsames Lagerfeuer. Telepathen hatten es entfacht, die wie viele andere dem Ruf des Finders gefolgt waren. Nun verlor sich ihre Spur in der Dunkelheit.
    »Es war nicht nett, was du mit den Leuten gemacht hast!«, sagte Grao’sil’aana, während er eine aufgespießte Malala-Keule über die Flammen hielt.
    »Nett?«, fragte Daa’tan gedehnt. Er suchte in den zurückgelassenen Habseligkeiten der Telepathen nach Kleidungsstücken, die passen könnten. »Seit wann kümmert dich das Schicksal irgendwelcher Primärrassenvertreter?«
    Der Daa’mure sah auf. »Es kümmert mich nicht. Aber musstest du ihnen befehlen, an die Küste zu wandern?«
    »Wenn ich geahnt hätte, was für Klamotten die tragen, hätte ich ihnen befohlen, sich ins Meer zu stürzen!« Daa’tan hielt sich eine Hose an den Körper. Er zögerte einen Moment, dann warf er sie ins Feuer.
    Grao’sil’aana fauchte, als ihn der Funkenregen traf.
    Stunden waren vergangen seit Daa’tans Erwachen, und er hatte nichts anderes gezeigt als schlechte Laune. Grao’sil’aana musterte ihn unauffällig. Da stand er nun, optisch neunzehn Jahre alt! Nichts erinnerte mehr an das Kind mit den weichen Zügen und den dünnen Armen. Nein, was sich da ohne Scheu im Flammenschein präsentierte, war ein selbstbewusster junger Mann; wohlproportioniert, muskulös und seltsam fremd.
    Es konnte am Namen liegen. Noch vor zwei Wochen war Daa’tan ein Synonym gewesen für Zwölfjährig, Pubertierend, Unreif . Plötzlich passte das nicht mehr, und damit hatte der Daa’mure Schwierigkeiten.
    »Vielleicht sollte ich dich umbenennen«, überlegte er.
    Daa’tan lachte kalt, gürtete seine Hose und griff nach einem Hemd. »Du hast mir einmal meinen Namen gestohlen. Das gelingt dir kein zweites Mal, alter Mann!«
    Grao’sil’aana fuhr hoch. (Wie hast du mich genannt?) Daa’tan zog sich das Hemd über den Kopf. Er wechselte ebenfalls auf die mentale Kommunikationsebene. (Du hast es gehört, also brauche ich es nicht zu wiederholen.) (Du wirst mir gehorchen!)
    (Mach ich. Im nächsten Leben, Grao!) Grao’sil’aana spürte Weißglut in sich aufsteigen. Eigentlich war Hitze ja ein gutes Gefühl. Aber nicht diese Art, und nicht für ihn! Was hatte er auf sich genommen, um Daa’tan zu beschützen! Durch unsägliche Gefahren und ungezählte Desaster hatte er sich geschlagen – nur um jetzt
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