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Flammenkinder: Kriminalroman (German Edition)

Flammenkinder: Kriminalroman (German Edition)

Titel: Flammenkinder: Kriminalroman (German Edition)
Autoren: Lars Kepler
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I
    ELISABETH GRIMM ist einundfünfzig Jahre alt, und ihre Haare sind bereits leicht ergraut. Sie hat fröhliche Augen, und wenn sie lächelt, sieht man, dass sich der eine ihrer vorderen Schneidezähne ein wenig über den anderen schiebt.
    Elisabeth arbeitet als Betreuerin im Haus Birgitta, einem Jugendheim nördlich von Sundsvall. Das Haus ist eine halboffene Einrichtung in privater Trägerschaft und beherbergt auf der Grundlage des Gesetzes über besondere Bestimmungen zur Betreuung von Jugendlichen eine Wohngruppe von acht Mädchen im Alter von zwölf bis siebzehn Jahren.
    Wenn sie hierherkommen, nehmen viele dieser Mädchen Drogen, fast alle verletzen sich selbst und haben Essstörungen, und einige sind darüber hinaus ausgesprochen gewaltbereit.
    Im Grunde gibt es keine Alternative zu geschlossenen Einrichtungen mit alarmgesicherten Türen, vergitterten Fenstern und Personenschleusen. Und von da aus führt der Weg dann in aller Regel in Gefängnisse und die psychiatrische Zwangsverwahrung der Erwachsenenwelt. Das Haus Birgitta bildet jedoch eine der wenigen Ausnahmen von dieser Regel. Hier werden Mädchen aufgenommen, die an offene Therapieformen herangeführt werden sollen.
    Ins Haus Birgitta kommen die braven Mädchen, sagt Elisabeth immer.
    Sie greift nach dem letzten Stück dunkler Schokolade, steckt es sich in den Mund und spürt die Süße und das bittere Kitzeln unter der Zunge.
    Allmählich entspannen sich ihre Schultern. Es ist ein turbulenter Abend gewesen. Dabei hatte der Tag so gut angefangen. Am Vormittag Unterricht und nach dem Mittagessen Spiele und ein Bad im See.
    Nach dem Abendessen war die Hausverwalterin nach Hause gefahren und Elisabeth als einzige Betreuerin in der Einrichtung geblieben, denn vier Monate nachdem die Holdinggesellschaft Blanchefords das Haus übernommen hatte, war das Nachtpersonal reduziert worden.
    Die Mädchen durften bis zehn Uhr fernsehen. Sie selbst saß im Schwesternzimmer und versuchte, die vielen persönlichen Beurteilungen abzuarbeiten, als sie wütende Schreie hörte, woraufhin sie in den Fernsehraum eilte und sah, dass Miranda auf die kleine Tuula losging. Sie schrie, Tuula sei eine Fotze und Hure, zerrte sie von der Couch und trat ihr in den Rücken.
    Elisabeth war an Mirandas Gewaltausbrüche schon gewöhnt. Sie rannte zu Miranda, zog sie von Tuula weg, steckte einen Schlag auf die Wange ein und musste Miranda lautstark klarmachen, dass ihr Verhalten inakzeptabel war. Ohne sich auf Diskussionen einzulassen, nahm sie Miranda zur Leibesvisitation und anschließend in das Isolierzimmer im Flur mit.
    Elisabeth wünschte ihr noch eine gute Nacht, aber Miranda blieb stumm, saß lediglich mit gesenktem Kopf auf dem Bett und lächelte in sich hinein, als Elisabeth die Tür zuschlug und abschloss.
    Eigentlich hatte das neue Mädchen, Vicky Bennet, einen Termin für ihr Abendgespräch, aber wegen des Konflikts zwischen Miranda und Tuula blieb dafür keine Zeit mehr. Vicky hatte schüchtern darauf hingewiesen, dass ihr eigentlich ein Vieraugengespräch zustand, und als es verschoben werden musste, wurde sie traurig, zerschlug eine Teetasse, nahm eine der Scherben und ritzte sich am Bauch und an den Handgelenken.
    Als Elisabeth hereinkam, bedeckte Vicky ihr Gesicht mit beiden Händen und Blut lief ihre Unterarme herab.
    Elisabeth säuberte die oberflächlichen Wunden, klebte ein Pflaster auf den Bauch, verband Vickys Handgelenke mit Mullbinden, tröstete sie und nannte sie »meine Kleine«, bis sie den Anflug eines Lächelns sah. Die dritte Nacht hintereinander gab sie dem Mädchen zehn Milligramm Sonata, damit es einschlafen konnte.

2
    INZWISCHEN SCHLAFEN IHRE SCHÜTZLINGE ALLE , und es ist Stille eingekehrt im Haus Birgitta. Im Fenster des Schwesternzimmers brennt eine Lampe und lässt die Welt draußen undurchdringlich schwarz erscheinen.
    Mit einer tiefen Falte auf der Stirn sitzt Elisabeth am Computer und hält die Vorkommnisse des Abends im Berichtsblatt fest.
    Es ist fast zwölf, und sie merkt, dass sie noch nicht einmal dazu gekommen ist, ihre Abendtablette zu nehmen. Ihr bisschen Stoff, wie sie scherzhaft zu sagen pflegt. Nachtdienste und aufreibende Tage haben bei ihr zu Schlafstörungen geführt. Um zehn Uhr nimmt sie deshalb immer zehn Milligramm Stilnox, um gegen elf einschlafen zu können und ein paar Stunden Ruhe zu finden.
    Die Septemberdunkelheit hat sich auf den Wald herabgesenkt, aber man kann noch erkennen, dass die spiegelglatte Fläche des Sees
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