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1913

1913

Titel: 1913
Autoren: Florian Illies
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einziehen können. Nach den Wochen des Wartens wird Nolde von einer großen Schaffenslust übermannt. Er nimmt sein Aquarellpapier, füllt etwas Flusswasser in einen Behälter und malt von morgens früh bis abends spät: Matam und Tulie zunächst, dann aber auch die Hütten der Ureinwohner, die Frauen, die Kinder, die Ruhe, die Palmen. Er schnitzt auch einen Holzstock und druckt einen Holzschnitt der beiden Boys. Hauchzart sieht man Ohren und Augen in den dunklen Köpfen, man erkennt die sonderbare Nase Tulies und die hervorstehende Oberlippe Matams, dahinter wuchert die Südseevegetation.
    Aber Emil Nolde ist nicht nur fasziniert, sondern auch ernüchtert. Er findet hier in Palau nicht mehr die unberührte Südsee, die einst Paul Gauguin malte und die die europäischen Dichter in ihren Versen beschworen. Die Ureinwohner der Kolonien sind auf traurige Weise europäisiert, »ihr Trotz gebrochen, die Haare kurz geschnitten«, wie er schreibt. Sie werden alle nach Rabaul gebracht, um Deutsch oder Englisch zu lernen, danach kehren sie in ihre heimischen Dörfer zurück, um künftig als Dolmetscher für Touristen zu arbeiten. Nolde setzt mit dem Boot über zur Halbinsel Gazelle, wo er noch auf ursprünglichere Strukturen hofft – er sieht, dass er einer Kultur im Augenblick ihres Untergangs begegnet, und begreift seine Aquarelle als Spurensicherung. Er sucht in den aufleuchtenden rosaroten Blüten der Bougainvillea und des Hibiskus nach dem Paradies, auch in den nackten Körpern der Einheimischen. Doch Nolde findet in den Gesichtern eine erschreckende Apathie. Statt von ursprünglicher Lebensfreude erzählen seine Bilder von der Südsee vom Ernst der Moderne. Er schreibt in die ferne Heimat: »Ich male und zeichne und suche einiges vom Urwesen festzuhalten. Eines möge wohl auch gelungen sein, ich bin jedenfalls der Meinung, dass meine Bilder der Urmenschen und manche Aquarelle so echt und derb sind, dass sie unmöglich in parfümierten Salons zu hängen sind.«
    Es entstehen Aberdutzende Aquarelle in diesem Dezember in Neu-Pommern, melancholische Studien der Agonie einer unter europäischem Druck gebrochenen Kultur. Mütter und Kinder schmiegen sich aneinander wie auf einem sinkenden Schiff. Das also ist das Paradies, von dem er jahrelang träumte und in das er sechzig beschwerliche Tage lang angereist ist.
    Am 23 . Dezember schickt Nolde mit dem Postdampfer von Rabaul 215 Zeichnungen und Aquarelle an seinen Freund und Förderer Hans Fehr in Halle. Am 24 . Dezember notiert Emil Nolde in sein Tagebuch, wie sehr er die weiße Weihnacht vermisst, das Knistern des Holzes im Kamin und den geschmückten Tannenbaum: »Es war uns kaum möglich, weihnachtlich zu fühlen, bei dieser Wärme. Unsere Gedanken streiften über die Meere und Weltteile hinweg zu den Stuben in der deutschen Heimat, wo funkelnd hell die Lichter brannten. Ich stellte meine kleinen während der Seefahrten mit dem Taschenmesser geschnitzten Figuren auf unseren Weihnachtstisch.«
    ◈
    In der Nummer 52 der »Schaubühne« vom 25 . Dezember erscheint das Gedicht »Großstadt-Weihnachten« von Kurt Tucholsky alias Theobald Tiger. Es erzählt Weihnachten als bürgerliches Schauspiel, bei dem die Menschen keine Gefühle mehr haben, sondern nur noch Rollen.
    Groß-Stadt-Weihnachten (…)
    Das Christkind kommt! Wir jungen Leute lauschen
    auf einen stillen heiligen Grammophon.
    Das Christkind kommt und ist bereit zu tauschen
    den Schlips, die Puppe und das Lexikon,
    Und sitzt der wackre Bürger bei den Seinen,
    voll Karpfen, still im Stuhl, um halber zehn,
    dann ist er mit sich selbst zufrieden und im reinen:
    »Ach ja, son Christfest is doch ooch janz scheen!«
    Und frohgelaunt spricht er vom ›Weihnachtswetter‹,
    mag es nun regnen oder mag es schnein,
    Jovial und schmauchend liest er seine Morgenblätter,
    die trächtig sind von süßen Plauderein.
    So trifft denn nur auf eitel Glück hienieden
    in dieser Residenz Christkindleins Flug?
    Mein Gott, sie mimen eben Weihnachtsfrieden …
    »Wir spielen alle. Wer es weiß, ist klug.«
    Das Zitat im letzten Vers stammt von Arthur Schnitzler. »Wir spielen alle. Wer es weiß, ist klug.« Das ist so etwas wie der geheime Code des Jahres 1913 . Schnitzler könnte stolz sein, dass ihn die junge Avantgarde so gut verstand, dass sie ihn zitieren konnte und alle gleich wussten, wer gemeint war.
    ◈
    Aber Arthur Schnitzler ist nicht stolz. Er notiert im Dezember in sein Tagebuch, er habe nun endgültig die Hoffnung
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