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1913

1913

Titel: 1913
Autoren: Florian Illies
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mich, wie mir als Knabe zu Mute war, wenn in der Silvesternacht der Weihnachtsbaum geplündert und weggeräumt wurde und alles wieder so prosaisch war wie vorher. Ich weinte im Bett die ganze Nacht vor mich hin und das lange lange Jahr bis zum nächsten Weihnachten war so lang und trostlos.« Und weiter: »Heute drückt mich das Sein in diesem Jahrhundert. Alles, was an Kultur, an Schönheit, an Farbe da war, wird geplündert«.
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    Am Ende des Jahres 1913 erscheint ein überraschendes Buch. Es heißt »Das Jahr 1913 « – darin der Versuch, eine Bilanz der Gegenwart zu ziehen, die »überreich an Kulturwerten« ist, aber zugleich eine »steigende Abstumpfung und Oberflächlichkeit der Massen sieht«. Höhepunkt ist der letzte Beitrag von Ernst Troeltsch über die religiösen Erscheinungen der Gegenwart: »Es ist die alte Geschichte, die wir alle kennen, die man eine Zeitlang den Fortschritt genannt hat und dann die Dekadenz, und in der man heute gern die Vorbereitung eines neuen Idealismus sieht. Sozialreformer, Philosophen, Theologen, Geschäftsmänner, Nervenärzte, Historiker signalisieren ihn. Noch aber ist er nicht da.« Die alte Geschichte, die man einmal den Fortschritt nannte – so weise also sprach man im Dezember 1913 . Aber wer verstand diese Sprache im Stimmengewirr dieses Jahres?
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    In Babylon wird die Tempelanlage Etemenanki wiederentdeckt: Es ist der legendäre »Turmbau zu Babel«.
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    Natürlich wird auch der Erfinder der synchronoptischen Geschichtsschreibung, Werner Stein, im Jahre 1913 , und zwar am 14 . Dezember, geboren. Sein »Kulturfahrplan« wird ab 1946 die ganze Menschheitsgeschichte durch Jahresquerschnitte zu gliedern versuchen.
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    Was trägt die Frau an Silvester? Die »Welt der Frau«, eine Beilage der »Gartenlaube«, gibt in ihrer Nummer 52 Tipps für die »Mode um die Jahreswende«. »Die Farbenfreude, die auch diese Saison auszeichnet, macht sich auch an den Toiletten für kleinere Festlichkeiten bemerkbar. Die meisten Formen tragen, dank des losen Schnittes, jenes anmutige Gepräge, das für schlanke Erscheinungen reizvoll ist. Aber auch der stärkeren Dame ist die jetzige Mode mit ihrem absichtlichen Verwischen einzelner Linien hold, wenn man zu wählen versteht.« Eine Seite weiter folgt ein Gedicht von Marie Möller, das den harmlos klingenden Titel »Silvester« trägt. Darin die verstörenden Zeilen:
    Drum laßt uns wirken spät und früh,
    Daß uns das Jahr gelinge!
    Daß jedem es nach Streit und Müh
    Den Sieg und Frieden bringe.
    Und daß des Weltkriegs Melodie
    Nicht länger drohend schalle!
    Daß bald auch sie in Harmonie
    Wie Glockenklang verhalle.
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    Rainer Maria Rilke geht es schlecht in diesen letzten Dezembertagen in Paris. Er schreibt: »Ich sehe keinen Menschen, es hat gefroren, es war Glatteis, es regnet, es trieft, – das ist hier der Winter, immer drei Tage von jedem. Ich habe von Paris über und über genug, es ist ein Ort der Verdammnis.« Und dann: »Hier der Inbegriff meiner Wünsche für 1914 , 1915 , 1916 . 1917 usf.« Der da lautet: Ruhe und mit einem schwesterlichen Menschen auf dem Lande sein. An einen dieser schwesterlichen Menschen, die aber zur Zeit ihre Gedanken anderswo hat, also Sidonie Nádherný, schreibt er sodann: »Mir wär es recht jetzt, wie ohne Gesicht zu sein, ein zusammengerollter Igel, der sich nur am Abend im Straßengraben aufmacht und vorsichtig heraufkommt und seine graue Schnauze in die Sterne hält.«
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    Zum ersten Mal wird 1913 das komplette Sternbild Sagitta am Himmel beobachtet. Südlich des Fuchses und nördlich des Adlers ist Sagitta ein deutlicher hell leuchtender Pfeil, der auf den Schwan zufliegt. Gebannt gehen die Blicke zum Himmel. Sagitta trägt den Namen des gefährlichen Pfeils, den der Mythologie nach Herkules abschießt. Doch der Schwan hat noch einmal Glück: Der Pfeil geht ganz knapp vorbei.
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    Es ist der 31 . Dezember 1913 . Arthur Schnitzler notiert in sein Tagebuch ein paar Worte: »Vormittags die Wahnsinnsnovelle vorläufig zu Ende dictiert.« Nachmittags liest er: Ricarda Huchs Buch »Der große Krieg in Deutschland«. Ansonsten: »Sehr nervös tagsüber«. Dann Abendgesellschaft: »Es wurde Roulette gespielt«. Um Mitternacht stoßen sie an auf das Jahr 1914 .

Auswahlbibliographie
    Dieses Buch fußt auf zahlreichen Biographien und kulturgeschichtlichen Quellenwerken. Nachfolgend ist eine Auswahl der Werke zitiert, denen der Autor wichtige Hinweise verdankt.
    Altenberg,
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