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1913

1913

Titel: 1913
Autoren: Florian Illies
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sehen. Die Fahrt der Mona Lisa durch Italien war ein Triumphzug ohnegleichen. Wo immer der Wagen einen Bahnhof passierte, jubelten die Menschen und winkten. Von Mailand aus bekam die Mona Lisa einen Privatwagen im Expresszug Mailand–Paris. Sie wurde behandelt wie eine Königin. Am späten Abend des 31 . Dezember überquerte die Mona Lisa die französische Grenze. Sie hatte den Louvre als Gemälde verlassen, nun kehrte sie als Mysterium zurück.
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    In der Dezemberausgabe der »Neuen Rundschau« erscheint auf einem unpaginierten Werbebeiblatt eine kleine Notiz von Oscar Bie, der zuvor Thomas Mann zu Hause besucht hat: Mann arbeite an einer neuen Novelle mit dem Titel »Der Zauber-Lehrling«. Bie hatte eine so unleserliche Handschrift, dass er sie selbst oft nicht entziffern konnte. So ist Thomas Mann den Dezember über damit beschäftigt, seine Freunde und Bekannten, die ihm daraufhin geschrieben haben, zu informieren: »Denken Sie ja nicht, (die Novelle) ist fertig. Sie heißt übrigens ›Der Zauber
berg
‹ (Bie hat sich verlesen).«
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    Am 15 . Dezember schreibt Ezra Pound, der große Poet und einer der zentralen und umtriebigsten kulturellen Vermittler Londons, einen Brief an James Joyce nach Triest. Er bittet den verarmten Englischlehrer um einige seiner neuesten Gedichte für die Zeitschrift »The Egoist«. »Sehr geehrter Herr!«, beginnt dieser freundliche Brief. »Nach dem, was mir Yeats erzählt, könnte ich mir denken, dass uns der eine oder andere Abscheu gemeinsam ist.« Von diesem Brief an ist es Joyce, als sei er von den Toten auferweckt. Schon kommt der zweite Brief von Pound aus Kensington, er habe von Yeats das Gedicht »I Hear an Army« erhalten, das ihn sehr begeistere. Solchermaßen ermutigt, setzt sich James Joyce noch am selben Tag hin und korrigiert seine beiden Manuskripte. Nach zwei Wochen sind das erste Kapitel von »Ein Porträt des Künstlers als junger Mann« und die Erzählungen »Dubliners« fertig, und er schickt sie per Express nach London zu Ezra Pound. A star is born.
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    Nächtelang hockt Dr. med. Alfred Döblin, der schreibende Nervenarzt und Mitarbeiter von Herwarth Waldens Zeitschrift »Der Sturm«, im neuen Atelier von Ernst Ludwig Kirchner in der Körnerstraße. Immer wieder schreibt Döblin über Mann und Frau und die Bedingungen des Zusammenseins, über den Kampf der Geschlechter. Etwa, nachdem seine Geliebte einen Sohn von ihm bekam: »Die Ehe ist kein Spezialgeschäft für Sexualität. Ebenso töricht ist die Forderung, alle Sexualbeziehungen im Rahmen der Ehe zu erfüllen, als wolle man verlangen, nur zur Mahlzeit und in bestimmten Lokalen Hunger zu haben.« Das gefiel Kirchner sehr. Im Sommer hatte er Radierungen gemacht für Döblins Geschichte »Das Stiftsfräulein und der Tod«, die im November 1913 in den »Lyrischen Flugblättern« des kleinen Wilmersdorfer Verlages von A. R. Meyer erscheinen. In jenem Verlag also, in dem 1912 auch Gottfried Benns »Morgue« erschienen war und 1913 auch sein neuer Gedichtband »Söhne«.
    Im Dezember fängt Kirchner an, Illustrationen für Döblins Einakter »Comtess Mizzi« zu schaffen, einem Stück über die Kokotten, die Kirchner mit seinen Maleraugen so gierig beobachtete bei ihren Streifzügen durch die Friedrichstraße und an den Rändern des Potsdamer Platzes. Döblin sagt über die Kokotte: »Die Sexualorgane sind Betriebswerkzeuge.« Das ist die Theorie hinter der Praxis, die Kirchner ausmalt. Immer wieder nimmt er neue Anläufe in diesem Dezember, den Potsdamer Platz, seine Faszination und seine Kälte, seine Betriebsamkeit und seine Beziehungslosigkeit in Kunst zu überführen. Die Pelzkragen der Kokotten, ihre rosa Gesichter im fahlen Eisrausch ihrer Kragen, diese schreiend grünen Federboas – und daneben die gesichtslosen, getriebenen Männer. Kirchner zeichnet und zeichnet, und einmal schreibt er sogar zwei Worte in sein Skizzenbuch: »Kokotte = Zeitfrau«.
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    Heiligabend in der Berliner Klopstockstraße bei Lovis Corinth.
    Das Lebenswerk ist schon wieder um ein Jahr reicher geworden. Vor allem in Tirol hat Corinth seine Palette erweitert, den Ton für die Berge gefunden, den er dann in seinen Porträts des Walchensees zur Meisterschaft führen wird. Aber noch immer ist er nicht ganz bei Kräften. Als das Weihnachtsessen endlich vorüber ist und die Bescherung beginnen soll, bittet Papa Corinth die Kinder noch um einen Augenblick Geduld. Er holt seine Staffelei, einen Keilrahmen und seine Farben.
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