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1913

1913

Titel: 1913
Autoren: Florian Illies
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Charlotte geht ebenfalls kurz raus, um nach dem Weihnachtsmann zu schauen, wie sie den Kindern sagt. In Wahrheit jedoch, um sich als Weihnachtsmann zu verkleiden. Die Kinder Thomas und Wilhelmine warten gespannt. Dann kommt der Weihnachtsmann, der also eine Weihnachtsfrau ist, und die Bescherung kann beginnen. Doch Lovis Corinth lässt seine Geschenke unausgepackt, hat nur Augen für seine Leinwand – mit wenigen energischen Pinselstrichen lässt er den Weihnachtsbaum erstehen, dessen rote Kerzen warm leuchten. Daneben sieht man Thomas, ganz versunken in den Anblick seines neuen Puppentheaters mit roten Vorhängen. Die kleine Wilhelmine im weißen Kleidchen hat eben eine Puppe ausgepackt und zieht bereits am nächsten Geschenk. Charlotte, links, hat noch ihr Weihnachtsmannkostüm an. Vorne links auf dem Bild steht die Marzipantorte, noch unangeschnitten. Doch nachdem Corinth sie in schönsten Brauntönen gemalt hat, legt er den Pinsel zur Seite, macht sich die Finger an einem Lappen sauber und nimmt sich ein Stück.
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    Josef Stalin friert in seiner sibirischen Verbannung.
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    Endlich ist Ernst Jünger in Afrika angekommen. Als frischgebackener Legionär der Fremdenlegion sitzt er mit seinen Kameraden in einem staubigen Zelt in Nordafrika bei Sidi bel Abbès. Statt großer Freiheit nur großer Drill. Bis zur totalen Erschöpfung gibt es bei sengender Hitze Wehrübungen, Manöver, Dauerläufe. Was hat ihn getrieben, sich gleich für fünf Jahre zu verpflichten? Jünger versucht erneut zu flüchten, diesmal vor der Fremdenlegion. Er versteckt sich in Marokko. Aber er wird gefasst und erhält eine Woche Arrest im Gefängnis der Garnison. Irgendwie hat er sich das alles ganz anders vorgestellt mit Afrika. Da bringt ihm ein Bote am 13 . Dezember folgendes Telegram: » REHBURG STADT , 12.06 UHR ABGESANDT . FRANZÖSISCHE REGIERUNG HAT DEINE ENTLASSUNG VERFÜGT LASZ DICH FOTOGRAFIEREN JÜNGER «. Nach diplomatischen Interventionen hat Jüngers Vater seine Freilassung und seinen Rücktransport erreicht. Am 20 . Dezember verlässt er das Quartier der Fremdenlegion in Nordafrika, in seinem Entlassungsbogen ist als Grund des Ausscheidens vermerkt: »Einspruch des Vaters wegen Minderjährigkeit«. Tief gebräunt, tief beschämt, tief irritiert fährt Jünger mit dem Zug den langen Weg von Marseille nach Bad Rehburg zurück. Zu Weihnachten kommt er wieder im elterlichen Haus an. Heiligabend sitzt er also nicht unter dem afrikanischen Sternenhimmel, sondern unter einem Weihnachtsbaum, der ein paar Tage zuvor im Rehburger Wald geschlagen worden ist. Es gibt Karpfen. Jünger verspricht seinem Vater, nun fleißig für das Abitur zu lernen. Dann entschuldigt er sich und geht früh zu Bett. Er liest vor dem Einschlafen nicht mehr in dem Buch »Die Geheimnisse des schwarzen Kontinents«.
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    Emil Nolde ist am Ziel seiner Träume. Am 3 . Dezember, zwei Monate nach ihrer Abreise, fährt er mit Ada und der Expeditionsgesellschaft auf dem Dampfer »Prinz Waldemar« der Norddeutschen Lloyd an den Palau-Inseln vorbei. Auf der kleinen Insel Jap auf den westlichen Karolinen kommt es zu ersten Kontakten mit Ureinwohnern, deren Boote neben den Ihren anlegen und die an Bord kommen. Dann geht es weiter, Richtung Äquator, sie fahren auch an der Insel von Deutsch-Neuguinea vorbei, auf der August Engelhardt sein Imperium begründet hat. Der deutsche Lebensreformer, inzwischen schon reichlich ausgemergelt, hat hier seine mit Büchern gefüllte Hütte am Strand und schart Anhänger seiner Kokosnuss-Religion um sich. Er hält die Kokosnuss für eine göttliche Frucht (weil sie so weit oben hängt) und predigt, dass die Menschen nur gesund werden können, wenn sie sich ausschließlich von der Milch und dem Fleisch der Kokosnuss ernähren. Er liebt dieses wunderbare göttliche Geräusch beim Öffnen, den Moment, wenn die Kokosnuss kracht.
    Auch Nolde isst in diesen Tagen sehr viele Kokosnüsse, aber es reicht ihm nicht, er braucht auch immer wieder ein frisch geschlachtetes Huhn. Am 13 . Dezember erreicht die Expeditionsgruppe Rabaul, die Hauptstadt des Schutzgebietes Neu-Pommern. Dort bekommt jeder einen einheimischen »Boy« zur Seite gestellt. Tulie und Matam heißen die beiden Jungen, die sich fortan um Emil und Ada Nolde kümmern. Damit sich alle akklimatisieren, bleibt die Gruppe nun für vier Wochen auf einer kleinen Anhöhe oberhalb von Rabaul, Namanula genannt, wo sie in ein neugebautes, aber noch nicht genutztes Kolonial-Krankenhaus
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