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1913

1913

Titel: 1913
Autoren: Florian Illies
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das gesuchte, sie müssten weitere Nachforschungen anstellen. Leonardo, erschöpft von der langen Reise und mit Aussicht auf seine 500 000  Lire, stellt das Bild an die Wand seines Zimmers und legt sich hin zum Mittagsschlaf.
    Sofort alarmiert Poggi die Polizei – als die Carabinieri die Tür öffnen, schläft Leonardo noch und neben dem Bett liegt der gesamte Inhalt seines Koffers verstreut. Er lässt sich widerstandslos verhaften. Die »Mona Lisa« wird unter Polizeischutz in die Uffizien gebracht. Dann ruft Poggi im Bewusstsein der Bedeutung seines Fundes nicht nur den Kulturminister Corrado Ricci in Rom an und den französischen Botschafter Camille Barrère. Sondern er lässt sich auch zu König Vittorio Emanuele III . und zu Papst Pius X. durchstellen.
    Im italienischen Parlament prügelten sich gerade zwei Abgeordnete, als jemand in den Plenarsaal kam und rief »La Gioconda ha trovato«. Die Gioconda ist wieder da! Die Botschaft wurde verstanden. Sofort umarmten sich die beiden Prügelnden und gaben sich Küsse der Begeisterung.
    Von dieser Minute an war ganz Italien im Mona-Lisa-Fieber. Und Leonardo? Leonardo hieß Vincenzo Peruggia, war 32  Jahre alt und war in der Zeit des Diebstahls als Aushilfsglaser im Louvre beschäftigt. Er hatte die Mona Lisa in den umstrittenen Glasrahmen gesetzt. Und da er sie hineingesetzt hatte, wusste er auch, wie er sie am einfachsten wieder herausnehmen konnte. Er ließ sich nachts einschließen, nahm das Bild heraus, schlug es in Leinwand ein und spazierte damit morgens aus dem Louvre, die Wärter, die ihn gut kannten, grüßten kurz.
    Es war vollkommen absurd. Von jedermann, jeder Putzfrau, jedem Kunsthistoriker, jedem Archivar im Louvre hatte die Polizei Fingerabdrücke abgenommen, um den Dieb zu fassen, denn dieser hatte auf dem Rahmen des Bildes Spuren hinterlassen. Aber den Aushilfsglaser Vincenzo Peruggia hatte man vergessen. Die Polizei hatte ihn, wie jeden anderen Louvre-Mitarbeiter, auf der Suche nach der Mona Lisa sogar zu Hause besucht, in seinem ärmlichen Zimmer in der Rue de l’Hôpital Saint-Louis Nr.  5 . Aber die Polizisten hatten nicht unter das Bett geschaut.
    Dort nämlich lag zwei Jahre lang, einen Kilometer Luftlinie vom Louvre entfernt, das meistgesuchte Kunstwerk der Welt. Die Geschichte war ein Schock: für den Louvre, für die Pariser Polizei. Aber zugleich war sie auch die große, glücksbringende Weihnachtsbotschaft. Peruggia erhielt in seiner Gefängniszelle unzählige Dankesbriefe, Süßigkeiten und Geschenke von dankbaren Italienern.
    Gabriele d’Annunzio dichtete: »Er, der von Ruhm und Ehre träumte, er, der Rächer der Diebstähle Napoleons, brachte sie über die Grenze zurück nach Florenz. Nur ein Dichter, ein großer Dichter konnte einen solchen Traum träumen.«
    Schon am 13 . Dezember waren die französischen Regierungsbeamten und Kunsthistoriker in Florenz, um die Echtheit der Mona Lisa zu überprüfen. Der italienische Kulturminister Ricci sprach die schönen Worte: »Ich wünschte mir nur, die Franzosen stuften das Bild als Kopie ein, dann bliebe die Mona Lisa in Italien.« Aber auch die Franzosen stuften das Bild als das Original ein.
    Alfredo Geri bekam vom Louvre einen Finderlohn und vom französischen Staat die Rosette der Ehrenlegion. Leonardo alias Vincenzo Peruggia wurde zu einer Gefängnisstrafe von sieben Monaten verurteilt.
    Am 14 . Dezember, bewacht von einer einzigartigen internationalen Ehrengarde aus Gendarmen und Carabinieri in Paradeuniformen, hing die Mona Lisa in den Uffizien, in einem vergoldeten Prunkrahmen aus Nussholz wurde sie wie bei einer Prozession durch die Gänge getragen. Dreißigtausend Menschen sahen sie, die italienischen Kinder bekamen einen Tag schulfrei, um nach Florenz zu reisen und das nationale Heiligtum zu bestaunen. Am 20 . Dezember dann wurde das Bild in einem Salonwagen voller Ehrengäste nach Rom zu König Vittorio Emanuele III . gebracht. Er überreichte es am nächsten Tag im Palazzo Farnese, der französischen Botschaft, in einem symbolischen Akt. Über Weihnachten 1913 war das Bild noch einmal in der Villa Borghese ausgestellt – der Kulturminister Ricci selbst saß während der Öffnungszeiten neben dem Bild, er hatte versprochen, es keine Sekunde aus den Augen zu lassen. Nachts passten ein Dutzend Polizisten auf sie auf. Dann wurde die Mona Lisa im Salonwagen nach Mailand gefahren – unter höchsten Sicherheitsvorkehrungen war das Bild dort für zwei Tage im Museum Brera zu
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