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1913

1913

Titel: 1913
Autoren: Florian Illies
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»Putativnotwehr« befunden und sei folglich unschuldig. Die liberale »Frankfurter Zeitung« erkennt die erschreckende Botschaft dieses Freispruchs: »Das Bürgertum hat eine Niederlage erlitten. Das ist das eigentliche und sichtbare Zeichen des Zaberner Prozesses … In der Auseinandersetzung zwischen Militärgewalt und Zivilgewalt hat das Kriegsgericht das Recht der uneingeschränkten Herrschaft der ersteren gegenüber dem Bürgertum statuiert.«
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    Im Jahre 1913 wird die Firma Prada gegründet und eröffnet in der Galleria Vittorio Emmanuele in Mailand ihr erstes Geschäft für elegante Lederwaren.
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    Kaiser Wilhelm fährt Mitte November mit der Eisenbahn nach Halbe zum »Kaiser-Bahnhof«, dann geht es mit Kutschen weiter in das Waldgebiet in der Dubrow. Dort beginnt die Jagd um halb zwei nachmittags, in einem mit Tüchern und Netzen umspannten Gebiet. Das Wild wird am Schießstand seiner Majestät vorbeigetrieben. Zwei Büchsenspanner laden dem Kaiser permanent nach. Als um 14.45 Uhr die Jagd wieder abgeblasen wird, sind insgesamt 560 Stück Wild erlegt worden. Kaiser Wilhelm II . hat allein zehn Schaufler und zehn Sauen erlegt. Er regt beim Jagdessen abends an, dass doch ein Gedenkstein künftig an seine Treffsicherheit erinnern möge.
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    Im November 1913 kommt es zum intimsten, verständnisvollsten und vielleicht ehrlichsten Briefwechsel zwischen Thomas und Heinrich Mann. Thomas Mann geht es nicht gut in diesem Moment. Seine Frau Katia wird nicht gesund, ihr Husten, den sie seit Monaten, ja Jahren in Sanatorien zu heilen versucht, ist wieder da, bellender denn je. Außerdem war er das erste Mal überschuldet, hatte sich mit dem Hausbau in der Poschingerstraße, der kurz vor dem Abschluss steht, übernommen. Er bittet seinen Verleger Samuel Fischer um einen Vorschuss von 3000  Mark auf den nächsten Roman. Und an seinen Bruder Heinrich schreibt er: »Mein ganzes Interesse galt immer dem Verfall, und das ist es wohl eigentlich, was mich hindert, mich für den Fortschritt zu interessieren.« Und dann: »Aber was ist das für ein Geschwätz. Es ist schlimm, wenn die ganze Misere der Zeit und des Vaterlandes auf einem liegt, ohne dass man die Kräfte hat, sie zu gestalten. Aber das gehört wohl eben zur Misere der Zeit und des Vaterlandes. Oder wird sie im ›Unterthan‹ gestaltet sein? Ich freue mich mehr auf Deine Werke als auf meine. Du bist seelisch besser dran und das ist eben doch das Entscheidende.« Und dann, in seltener warmherziger Bruderliebe: »Daß ich Dir so schreibe, ist natürlich eine krasse Taktlosigkeit, denn was sollst Du antworten.« Doch Heinrich Mann, der seinen großen Zeitroman »Der Untertan« in den folgenden Monaten abschließen wird, weiß offenbar, wie er zu antworten hat. Wir kennen seine Reaktion nicht. Aber die von Thomas: »Für deinen klugen, zarten Brief danke ich Dir von Herzen.« Und weiter, eine Art plötzlicher Liebeserklärung an die Geschwister: »In meinen besten Stunden träume ich seit Langem davon, noch einmal ein großes und getreues Lebensbuch zu schreiben, eine Fortsetzung von Buddenbrooks, die Geschichte von uns fünf Geschwistern. Wir sind es wert. Alle.« Nie wieder wird er seinem Bruder einen so tiefen Einblick geben in seine von Müdigkeit und Zweifeln gemarterte Seele.
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    Von der Mona Lisa keine Spur.
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    Marcel Duchamp hat noch immer keine Lust auf Kunst, aber er hat eine Idee. »Kann man«, so fragt er sich, »Werke schaffen, die keine Kunst-Werke sind?« Und dann tauchte im Herbst in seiner neuen Wohnung in der Rue Saint-Hippolyte in Paris plötzlich das Vorderrad eines Fahrrades auf, das er auf einen gewöhnlichen Küchenschemel montiert. Marcel Duchamp spricht darüber ganz beiläufig: »Es war etwas, das ich in meinem Zimmer haben wollte, wie man ein Feuer hat oder einen Bleistiftanspitzer, außer, dass es keinen Nutzeffekt hatte. Es ist ein angenehmes Gerät, angenehm aufgrund der Bewegungen, die es gab.« Duchamp findet es so beruhigend, das Rad mit der Hand zu drehen. Das unendliche Um-sich-selbst-Kreisen gefällt. Während in Paris und Berlin und Moskau die Künstler noch darum kämpfen, ob nun der Kubismus, der Realismus, der Expressionismus oder die Abstraktion der Königsweg sei, da stellt der junge Duchamp einfach ein Fahrrad-Rad in seine Küche und schafft damit das erste »ready-made«. Es ist der beiläufigste Paradigmenwechsel der Kunstgeschichte.
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    Am 20 . November notiert Franz Kafka in seinem Tagebuch: »Im Kino
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