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1913

1913

Titel: 1913
Autoren: Florian Illies
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eine Pfeife, um sich erwachsener zu fühlen und sein abenteuerliches Herz zu stärken, und dann kauft er ein Ticket vierter Klasse und fährt von Bahnhof zu Bahnhof Richtung Südwesten. Er fährt immer weiter, erst nach Trier, dann durch Elsaß-Lothringen, Jünger schlägt sich durch, irgendwann, nach einer unendlichen Odyssee ist er am 8 . November ausgerechnet in Verdun, wo er in die Fremdenlegion eintritt. Er wird in die 26 . Instruktionskompanie eingewiesen als Nummer 15 308 und nach Marseille gebracht, dort besteigt er das Schiff in sein gelobtes Land: Afrika. Die Lokalzeitung meldet: »Bad Rehburg, 16 . November. Der Primaner als Fremdenlegionär. Der Unterprimaner Juenger, ein Sohn des Bergwerksbesitzers Dr. Phil. Juenger, hat sich für die französische Fremdenlegion anwerben lassen und befindet sich bereits auf dem Wege über Marseille nach Afrika. Der Vater des Bedauernswerten hat sich an das Auswärtige Amt in Berlin um Hilfe gewandt. Die deutsche Botschaft ist angewiesen, sich mit der französischen Regierung wegen der Freilassung des Juenger in Verbindung zu setzen.«
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    Nach ihrer Hochzeit im Mai ziehen Viktoria Luise von Preußen und Prinz Ernst August von Hannover im November nach Braunschweig. Nach fast fünfzig Jahren ist erstmals wieder ein Welfe regierender Herzog von Braunschweig. Das junge Paar ist glücklich und bekommt fünf Kinder.
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    Im kleinen Garnisonsstädtchen Zabern in Elsaß-Lothringen, das seit 1871 zum Deutschen Kaiserreich gehört, geschieht am 28 . Oktober etwas Ungeheuerliches. Am Abend finden sich vor der Kaserne der deutschen Armee ein paar Dutzend Demonstranten ein, die dagegen protestieren, dass der Regimentskommandeur Günter Freiherr von Forstner seinen Rekruten erklärt hat, die Franzosen seien alle »Wackes« und: »Auf die französische Fahne könnt ihr scheißen«. Diese Worte waren an die Lokalzeitung gelangt und hatten für Entsetzen bei der Bevölkerung gesorgt. Als die Demonstranten Plakate hochhalten und um mehr Respekt werben, lässt der Kommandeur des Regiments drei Züge Infanterie mit scharfer Munition und aufgesetztem Bajonett anrücken. Unter den Demonstranten bricht Panik aus, doch die deutschen Soldaten prügeln auf sie ein und nehmen über dreißig Personen fest, darunter etliche unbeteiligte Passanten. Sie werden im Kohlenkeller ohne Licht und Toiletten eingesperrt. Darauf spricht der Regimentskommandeur Günter Freiherr von Forstner die folgenden Worte: »Ich betrachte es als ein Glück, wenn jetzt Blut fließt … Ich habe jetzt das Kommando, ich bin es der Armee schuldig, Respekt zu verschaffen.«
    Fünf Tage später wird er mit einem Trupp Soldaten erkannt und einige Arbeiter einer Schuhfabrik rufen ihm »Wackes-Leutnant« zu, daraufhin verliert er die Beherrschung und haut einem gehbehinderten Gesellen, der nicht schnell genug fliehen konnte, den Säbel über den Kopf, so dass dieser blutüberströmt zusammensinkt.
    Schon einen Tag später debattiert der Reichstag in Berlin über die Vorgänge in Zabern. Die »Zabern-Affäre« bedrohte den Frieden zwischen Frankreich und dem Deutschen Kaiserreich wie kein Ereignis zuvor. Der deutsche Kriegsminister Erich von Falkenhayn lässt sich von dem offenen Rechtsbruch der deutschen Militärs nicht beirren. Er behauptet, »lärmende Tumultanten« und »hetzerische Presseorgane« seien für die Zuspitzung der Situation in Zabern verantwortlich. Daraufhin kommt es zu Tumulten im Landtag, die Opposition verwahrt sich gegen die Rechtfertigung eines Agierens des Militärs außerhalb des Rahmens von Gesetz und Ordnung. Der Zentrumsabgeordnete Konstantin Fehrenbach: »Auch das Militär untersteht dem Gesetz und dem Recht, und wenn wir zu den Zuständen kommen, das Militär exlex zu stellen und die Zivilbevölkerung der Willkür des Militärs preiszugeben, dann, meine Herren: Finis Germaniae! … Es ist ein Desaster für das Deutsche Reich.« Das wahre Desaster aber kommt erst noch: Denn dem deutschen Staatsoberhaupt Wilhelm II . sagt das schneidige Auftreten des deutschen Militärs eigentlich zu, und er kann nichts wirklich Dramatisches an der sogenannten »Zabern-Affäre« finden. Zu einem Aufschrei steigert sich die Reaktion der europäischen Presse aber, als das Urteil gegen den Kommandeur Forstner, das zunächst wegen vorsätzlicher Körperverletzung auf 43 Tage Gefängnis lautete, im Berufungsverfahren vom Oberkriegsgericht in einen Freispruch umgewandelt wird. Forstner, so die Richter, habe sich in
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