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1913

1913

Titel: 1913
Autoren: Florian Illies
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keine Ahnung.« Nicht schlecht. Er nimmt noch einen Schluck vom Rotwein und steckt sich eine Zigarette an (so stellt man sich das jedenfalls vor), dann nähert er sich von Ulrich aus schreibend der Heldin Diotima, der begehrten Schönheit, der Frau voller Eigenschaften, die ganze Zeit hatte er schon diesen bestimmten Satz auf der Zunge. Und also schreibt er: »Und etwas stand offen: es war wohl die Zukunft, jedenfalls waren es aber ein wenig auch ihre Lippen.«
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    Es gibt ein paar glückliche Menschen an diesem Weihnachtstag des Jahres 1913 . Karl Kraus und Sidonie Nádherný von Borutin sind zwei von ihnen, denen alles offensteht. Noch haben die Druckwellen des Streits mit Franz Werfel ihr Idyll nicht erreicht. Noch genießen sie einander, heimlich, aber voller Liebe. Kraus ist überwältigt vom reizenden Schloss der Borutins in Janowitz, wo nur Petroleumlichter leuchten, von seinem traumhaften Park mit der wunderbaren, 500  Jahre alten Pappel im Innenhof – jenem Park, der schon Rilke in seinen ewigen Bann schlug. Auch jetzt, im Dezember, hat die große Pappel noch ein paar zerzauste Blätter oben in der Krone, die aufrauschen, wenn der Wind über die Hügel fährt. Kraus ist dem Zauber dieses Ortes völlig erlegen, hier, wo seine geliebte Sidonie die Herrin ist über die Pferde und die Hunde und die Schweine. Hier ist sein Paradies. Hier ist alles, was es ist: gut und natürlich und wahr. Sidonie und Janowitz, diese Befreiung von Wien und von seinem intellektuellen Korsett, machen Karl Kraus zu einem anderen Menschen. Sidonies Bruder wünscht sich eine standesgemäße Hochzeit für seine Schwester, aber wenn Karl nachts, sobald der Bruder eingeschlafen ist, durch die dunklen, kalten Schlossgänge huscht und zu seiner Sidonie ins warme Bett steigt, dann denken sie nicht nach über solch altmodischen Standesdünkel. Karl Kraus ist schon am 23 . Dezember in Janowitz eingetroffen, am 24 . Dezember kommt sein Freund Adolf Loos nach, gemeinsam wollen sie Weihnachten feiern. Loos versucht, wohl um das junge Paar nicht zu lange zu stören, das Schloss des Thronfolgers in Konopischt zu besuchen, das direkt neben dem Schloss der Borutins liegt. Er schreibt einen Brief und bittet um Einlass. Aber Franz Ferdinand will nicht gestört werden. Schade, es wäre ein schönes Zusammentreffen geworden der beiden äußersten Pole von Österreich-Ungarn, von Loos, dem eiskalten Bekämpfer des Ornaments, und von Franz Ferdinand, dem heißblütigen Kommandierenden des Militärs.
    Da kommt ein Brief an Sidie aus Paris, Rilke ist der Absender. »Ist Karl Kraus bei Ihnen?«, so fragt er, weil Sidie sich ihm anvertraut hat. Und dann bittet er ausgerechnet Sidie, die so angewidert war, um Vermittlung eines Essays über Franz Werfel an Karl Kraus, Titel »Über den jungen Dichter«. Etwas Unpassenderes hätte er nicht schicken können an Kraus, der bald darauf erfährt, dass Werfel Gerüchte über seine Geliebte in die Welt setzt, was ihn rasend macht wie einen blindwütigen Stier.
    Aber nun stört Rilkes Brief das Liebesidyll in Janowitz nicht weiter, Sidie legt den Brief zur Seite, das hat keine Eile, denkt sie sich und geht mit Karl und ihrem geliebten Hund Bobby noch einmal in den Park. Sie tanzen umher zwischen den Schneeflocken, die zart vom Himmel fallen.
    Kraus, der sonst nie länger als zwei Tage von seinem Schreibtisch fernbleibt, verlängert seinen Urlaub bis Neujahr und schreibt poetische Naturgedichte. Sidie, die große stolze Schönheit, schenkt ihm später ein träumerisches Foto von sich, hinten drauf schreibt sie mit blauer Tinte: »Karl Kraus/zur Erinnerung an gemeinsame Tage von Sidie Nádherný/Janowitz 1913-14 «. Er hängte es in Wien sofort über seinen Schreibtisch und nimmt es nie wieder ab. Und irgendwann einmal, irgendwann im Leben danach, schreibt er ihr eine Karte aus St. Moritz: »Bitte heute Abend der Weihnachten 1913 zu gedenken.« Es muss sehr schön gewesen sein, dieses Weihnachtsfest.
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    Am 27 . Dezember verlängert das Ministerium in Wien den Krankheitsurlaub des an Neurasthenie erkrankten Bibliothekars zweiter Klasse Robert Musil um weitere drei Monate. Er reist sofort nach Deutschland, um mit Samuel Fischer zu verhandeln, wenig später wird er Redakteur von dessen Zeitschrift »Neue Rundschau«. Auf seiner Zugreise von Wien nach Berlin notiert er irritiert: »Auffallend in Deutschland: Die große Dunkelheit.«
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    Silvester 1913 . Oswald Spengler schreibt in sein Tagebuch: »Ich erinnere
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