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188 - Der lebende Nebel

188 - Der lebende Nebel

Titel: 188 - Der lebende Nebel
Autoren: Ronald M. Hahn
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Technik, derer sich der junge Mann mit dem französischen Akzent bediente: Sie war bereits vor Jahrhunderten untergegangen. Dass er außerdem behauptete, der Sohn eines Kaisers zu sein und über zweihundert Geschwister zu haben, machte ihn auch nicht glaubwürdiger.
    Mindestens acht Zehntel der Erdfläche standen, sofern sie bewohnt waren, unter der Fuchtel von Feudelherrschern.
    Rulfan war weit herumgekommen und hatte eines gelernt: All diese Herrscher unterschieden sich nicht von denen, die in den ersten neunzehn Jahrhunderten christlicher Zeitrechnung auf diesem Planeten den Ton angegeben hatten: Sie waren mehrheitlich selbstherrliche Analphabeten und mit Brutalität an die Macht gelangt.
    Gegen diese Herren war Victorius ein ganz und gar untypischer Prinz: Er war nicht überheblich. Er schnauzte nicht herum. Er war gebildet.
    Dass er Lesen konnte, hatte Rulfan vermutet. Dass er ein Dutzend Sprachen sprach und noch mehr verstand, wunderte ihn nicht: Auch ein Blinder erkannte, dass Victorius über seltene Geistesgaben gebot.
    Dass sein Fraace altertümlich und er selbst wie eine Figur aus einem Jules-Verne-Roman wirkte, die Rulfan früher in der Bunker-Bibliothek leidenschaftlich gern gelesen hatte, fand er charmant. Seine Ausdrucksweise war freilich ein Fall für sich.
    Wenn er trinken wollte, sagte er nicht »Hör mal, ich habe Durst«, sondern »Folgendes: Mich dürstet.«
    Er ist schon reichlich komisch. Aber eigentlich hätte ich es nicht besser treffen können…
    Irgendwo rechts vor ihnen schlug schäumende Brandung an einen Sandstrand. Palmen wiegten sich in einer leichten Brise.
    In der klaren Dunkelheit muteten die Sterne fast märchenhaft an.
    Vor ihnen löste sich die Ortsmasse in ihre Bestandteile auf.
    Rulfan sichtete Pfahlbauten und Steingebäude. Im Freien hängende Öllampen erzeugten eine gemütliche Atmosphäre. In der Bucht, die sich vor dem Ort ausbreitete, fehlte nur ein Piratenschiff, um die Illusion vollkommen zu machen, dass Peter Pan und seine Verlorenen Jungen gleich über sie hinweg flogen.
    Rulfan schätzte, dass der Ort aus etwa hundert Hütten bestand. Er wusste nicht, wie die Insel hieß, auf der sie gelandet waren, um Trinkwasser und Brennstoff zu fassen. Die meisten Eilande in dieser Gegend fand man auf keiner Landkarte, da sie früher, als man noch Landkarten gezeichnet hatte, nicht existiert hatten. Es war ihm aber auch egal, denn sie war ohnehin nur eine Zwischenstation.
    Victorius rückte seinen Tornister zurecht und deutete auf ein langes Gebäude. Die Eingangstür stand offen. Viele Stimmen drangen an ihre Ohren. Über dem Eingang verkündete ein Schild mit Bildsymbolen, wie der Laden hieß. Wenn Rulfan es richtig deutete, hieß er Zum schielenden Murgatroyd.
    »Es scheint ein Gasthaus zu sein.«
    »Yeah«, erwiderte Rulfan. »Das glaub ich auch.«
    »Folgendes«, sagte Victorius ohne anzuhalten. »Ich erledige die Kommunikation, du schweigst.«
    »Kein Problem, Majestät.«
    »Und erspare mir deine Scherze.«
    »Gut.« Rulfan seufzte. Manchmal bedauerte er es doch, nicht allein unterwegs zu sein. Es hatte Begleiter oft als Last empfunden. Wer allein reiste, kam nicht nur besser durch; er fand auch leichter ein Quartier oder trieb Nahrung auf. Wer Begleiter hatte, musste auf jede ihrer Schrullen Rücksicht nehmen. Vierbeinige Begleiter gingen ja noch: Die waren anspruchslos und konnten sich allein beschäftigen.
    Aber Zweibeiner? Am schlimmsten waren Frauen, die an allem herumnörgelten, was einen Draufgänger nicht juckte: zugige Unterkünfte; von Ungeziefer heimgesuchte Unterkünfte; harte Strohsäcke in zugigen, von Ungeziefer heimgesuchten Unterkünften; übel riechende Latrinen in zugigen etc. Unterkünften; und so weiter.
    Obwohl Victorius behauptete, aus adligem Hause zu stammen, gehörte er nicht zu denen, die ständig über die Unzulänglichkeiten der Welt nörgelten und jenen den Kopf wuschen, denen es egal war, ob sie von Wanzen aufgefressen wurden. Zwar rümpfte er beim Betreten der von Kerzen erhellten Gaststube die Nase, ließ aber nicht erkennen, was ihn mehr ekelte: die Grillratzen auf den Tellern der Gäste oder die in der Raummitte auf einem Podest stehende Schale mit Froschaugen, an denen die Gäste sich laben durften, bis man sie an einem der Tische untergebracht hatte.
    Während Victorius sich mit einer schönen mandeläugigen Frau unterhielt, schaute Rulfan sich um. Die Gaststube war groß und gut besucht. Die Gäste waren alle dunkelhaarig und trugen
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