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160 - Die Schrecken von Kabuul

160 - Die Schrecken von Kabuul

Titel: 160 - Die Schrecken von Kabuul
Autoren: Jo Zybell
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waren keine Finger mehr, und auch keine Hand. Da war nur noch ein schwarz verkrustetes Handgelenk, eine blutende Wunde…
    Panik füllte ihr Hirn mit Eis. Sie schrie noch lauter, denn jetzt erst, im Augenblick der Erkenntnis, flammte der Schmerz auf, und mit ihm abgrundtiefer Schrecken: keine Hand mehr!
    Nie wieder greifen mit der Rechten! Nie wieder einen Säbel führen, nie wieder…
    Ihr wurde schwarz vor Augen, sie taumelte gegen den Baumstamm und brach zusammen. Die erste Taratze schnappte nach ihrem Stiefel, riss sie weg vom Baumstamm und hin zu den anderen beiden Schwarzpelzen.
    Auf einmal war da ein Fauchen in der eisigen Nachtluft. Die Taratze ließ ihren Stiefel los, bäumte sich auf, fiel und blieb auf dem Rücken liegen. Der Knauf eines Messers ragte aus ihrer Hüfte.
    »Weg von ihr!«, blaffte eine Frauenstimme. »Haut ab, tausendfach verfluchte Brut Orguudoos! Weg mit euch, sag ich…!«
    Die anderen beiden Taratzen ließen sich auf die Vorderläufe nieder und wichen zurück. Ihre Nackenfelle sträubten sich. Ein Schatten schob sich aus der Dunkelheit. Nein, zwei Schatten: ein Mensch und sein Reittier.
    Und ein Schwert.
    Die Frau! Die Frau, die sie überfallen hatten! Die Frau, die Ali Bin Kurt und Marco Bin Ali getötet hatte…
    Ihr langes Schwert fuhr einem der beiden Schwarzpelze in die Schnauze. Das Biest kreischte erbärmlich, wälzte sich im Dreck, fiepte und fauchte, bis der zweite Hieb es erlöste. Die dritte Taratze huschte in die Nacht.
    Die Frau ging in die Hocke und begutachtete den Armstumpf. »Armes Miststück…«
    Ihr wurde wieder schwarz vor Augen. Sie träumte von ihrem Großvater. Zum tausendsten Mal durchlebte sie den Augenblick, in dem sie sich nach seiner Leiche bückte und ihm den Säbel abschnallte.
    Als sie die Augen öffnete, schwebte Kara Bin Paalis Gesicht über ihr. Er blutete aus einer Wunde an der Schläfe. »Nimm sie und bring sie zu einem Medizinmann oder einem Göttersprecher«, hörte sie die raue Stimme der Frau sagen, die sie überfallen hatten. »Beeil dich, bevor ich es mir anders überlege…«
    ***
    »Einen Heiler suche ich.«
    Der Alte hörte für einen Moment auf zu kauen, runzelte die Stirn und neigte den Kopf, als wäre er schwerhörig.
    »Einen Medikus. Einen Medizinmann.« Aruula deutete auf den Verband, mit dem sie ihre Linke umwickelt hatte.
    »Schmerzen, verstehst du? Ich brauche einen Heiler, einen Göttersprecher.«
    Das Gesicht des Alten hellte sich auf. »Da.« Er fing wieder an zu kauen, hob seinen klapperdürren Arm und deutete die Gasse hinunter. »Da, da. Götter. Da, da.« Wie es schien, verstand er endlich, doch ganz sicher war Aruula nicht.
    »Götter, da, da…« Er zog sich an seiner rechten Krücke hoch, klemmte auch die linke unter seine Achsel und humpelte los.
    »Da, da…« An den krummen Fassaden notdürftig geflickter Ruinen vorbei führte er Aruula die Gasse hinunter.
    »Schlaf nicht ein, Pushnik.« Sie war mittlerweile zu dieser Kurzform des Namens übergegangen; es klang einfach besser.
    Aruula zog ihr Reittier hinter sich her und rätselte, ob der Alte einen anderen Dialekt sprach als die Räuber vor zwei Tagen und sie deswegen nicht verstand, oder ob er einfach nur schwach im Geiste war. Rapushnik trottete brav an ihrer Hand, machte aber keine Anstalten, seine schaukelnden Schritte zu beschleunigen. Dennoch zeigte er sich an diesem Morgen von seiner zahmen Seite. Vielleicht spürte er, dass sie Schmerzen hatte.
    Es war kalt. Von den hohen Bergen im Norden kamen die letzten Boten des Winters, der sich noch nicht geschlagen geben wollte, in den Talkessel herab. Die nächste Wolkenfront würde sicher Schnee bringen. Aruula hatte sich in einen weißen Fellmantel gehüllt. Dessen Zottelhaar war fettig, das Leder der Innenseite grau und weich. Sie konnte sich nicht erinnern, jemals ein derart warmes Kleidungsstück getragen zu haben.
    Abgesehen von jenen Pelzen, die man auf den Dreizehn Inseln aus der Haut von Seehunden machte.
    Bergnomaden hatten den Mantel hergestellt; aus dem Fell eines Tieres, das sie Yaakuli nannten. Die Beschreibung der Nomaden passte auf eine Art Wakuda mit großem, weit ausladenden Gehörn und langem weißen Fell. Aruula hatte die Wanderer bei der Überquerung des Gebirges getroffen. Bezahlt hatte sie den Fellmantel mit einem jungen Eluu, den sie verendet in einer Falle gefunden hatte. Sie hatte eigentlich eine Reitdecke und Zeltplane aus seiner Schuppenhaut machen wollen. Stattdessen besaß sie nun einen
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