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1583 - Das Mädchen und der Nakk

Titel: 1583 - Das Mädchen und der Nakk
Autoren: Unbekannt
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Mitteilung war für Anjannin Tish ein Schock gewesen.
    Anjannins Mutter war vor Erleichterung regelrecht zusammengebrochen.
    Oft genug Anjannin sich vorgenommen, nie wieder eine Traumtür zu öffnen. Es war sowieso besser, es sich abzugewöhnen. Das wußte sie schon seit ihrem sechsten Lebensjahr.
    Damals hatte sie zum erstenmal eine Tür geöffnet. Sie war nicht darauf gefaßt gewesen, was daraufhin geschehen würde.
    Anjannins Mutter war völlig entgeistert gewesen, als sie das Kind wecken wollte und es plötzlich nicht mehr dort vorfand, wo es hingehörte, nämlich im Bett, sondern in einem Wandschrank.
    Und es war beileibe nicht bei diesem einen Vorfall geblieben.
    Anfangs hatte Anjannin noch nicht begriffen, daß es gefährlich für sie sein konnte, wenn man zuviel über sie herausfand. Sie hatte daher freimütig und unbefangen über ihre Träume berichtet.
    Sie hatte das nicht nur ihren Eltern gegenüber getan. „Sie ist irgendwie anders als die anderen Kinder hier in der Siedlung", hatte Anjannins Mutter eines Abends festgestellt, als sie dachte, das Kind würde längst schlafen. „Das ist mir gar nicht recht. Wir haben es auch so schon schwer genug, von den normalen Siedlern anerkannt zu werden. Wenn sie so weitermacht, wird sie uns noch zusätzlich in Verruf bringen."
    Dieser Ausspruch hatte Anjannin Tish sehr erschreckt.
    Es war nicht gut, anders zu sein.
    Für Anjannin Tish war das ein Gesetz.
    Nicht irgendein Gesetz.
    Das Gesetz.
    Weitere Erklärungen zu diesem Thema waren nicht nötig, denn Anjannin hatte bereits erlebt, was mit denen, die anders waren, mitunter geschehen konnte: Den einäugigen Varhas hatten sie eines Tages umgebracht.
    Irgend etwas hatte mit ihm nicht gestimmt. Und darum hatten sie ihn drüben beim alten Silo aufgehängt.
    Anjannin war danach sehr froh darüber gewesen, daß sowohl ihr Vater als auch ihre Mutter zwei Augen hatten.
    Als kleines Kind hatte sie damals den Eindruck gehabt, daß die Dinge nur noch schwieriger wurden, wenn man jemandem die Andersartigkeit schon von weitem ansehen konnte.
    Sie selbst hatte natürlich auch zwei Augen. Das war sicher gut für sie, obwohl sie damals noch nicht genau sagen konnte, warum das so war.
    Anjannins Mutter hatte es einmal so ausgedrückt: „Es sieht einfach vernünftiger aus. Der Mensch ist nun mal dafür geschaffen, daß er die Welt mit zwei Augen ansieht. Eines ist zuwenig, und drei sind zuviel. Zwei sind gerade das, was man die gesunde Mitte nennt."
    Und dabei hatte sie Anjannins Haare mit der üblichen Sorgfalt über die Stirn des Mädchens gekämmt.
    Denn Anjannin besaß zwar kein drittes Auge, aber es hatten sich zwei kleine Hautfalten auf ihrer Stirn befunden, und diese beiden Hautfalten hatten ein bißchen wie verkümmerte Augenlider ausgesehen.
    Eines Tages hatte man diese beiden Hautfalten entfernt.
    Wenn Anjannin sich heutzutage im Spiegel betrachtete, dann vermochte sie nichts Ungewöhnliches mehr an sich zu entdecken.
    Sie war nicht besonders hübsch.
    Das wußte sie.
    Aber darauf kam es auch gar nicht an.
    Viel wichtiger war es, nicht aufzufallen.
    Inzwischen hatte sie genug Erfahrungen mit ihren sonderbaren Träumen gesammelt, um zu wissen, daß sie nicht jede Traumtür zu durchschreiten brauchte, wenn sie herausfinden wollte, was auf der anderen Seite zu finden war.
    Trotzdem gab es Augenblicke, in denen sie der Versuchung nicht widerstehen konnte.
    Es war ein wundervolles Abenteuer, einen Blick in die Welt jenseits der Türen zu werfen. Sie hatte das schon seit geraumer Zeit nicht mehr getan. Es hätte sie durchaus gereizt, es wieder einmal zu versuchen.
    Noch während Anjannin Tish dies dachte, sah sie eine dieser bewußten Türen vor sich.
    Nachdenklich blieb sie stehen.
    Es war keine der üblichen Türen: Dies hier war ein regelrechtes Tor, groß genug, daß man es mit einem Lastengleiter hätte passieren können.
    Wenn es einen Lastengleiter in diesem Traum gegeben hätte. „Dieses Tor ist mir nicht geheuer", sagte Anjannin Tish in ihrem Traum zu sich selbst. „Ich sollte es lieber gar nicht erst öffnen. Ich sollte aufwachen."
    Aber das war leichter gesagt als getan.
    Anjannin stand unter den knorrigen Bäumen und sah die drohenden Wolken, die sich zu schwarzen Türmen erhoben und den ganzen Himmel bedeckten.
    Sie wünschte sich mit aller Kraft zurück in ihr weiches Bett.
    Aber diesmal funktionierte es nicht. Sie wurde nicht wach.
    Es ist das Tor! dachte sie. Das Tor hält mich fest.
    Aber wie konnte ein Tor
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