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158 - Orguudoos Brut

158 - Orguudoos Brut

Titel: 158 - Orguudoos Brut
Autoren: Stephanie Seidel
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schemenhaft, und sie waren gespenstisch in der unwirklichen Helle des verschneiten Bodens. Irgendwo wurde eine Tür geöffnet.
    Jemand stapfte durch den knirschenden Schnee; wer und wohin, ließ sich nicht erkennen. Leise zog die Barbarin ihre Satteltaschen von der Schulter und machte sich klein.
    Wieder erscholl dieses Geblök; ungeduldig, laut und so hohl wie ein leeres Fass. Aruula runzelte die Stirn. Was für ein Tier mochte das sein?
    Rumms-rumms-rumms ging es, und etwas Großes trat an eine Wand. Gleichzeitig wurde aus den Schritten im Schnee hastiges Laufen. Jemand rief Worte, die Aruula nicht verstand.
    Sie tippte auf einen russischen Dialekt und dem Klang der Stimme nach auf ein resignierendes: »Ja, verdammt – ich komm ja schon!«
    Die Barbarin schüttelte den Kopf. Sie konnte Menschen nicht verstehen, die sich von einem Tier herumkommandieren ließen. Andererseits wusste sie, dass solche Leute nicht die Schlechtesten waren, und sie überlegte bereits, ob sie das Dorf betreten sollte – da fiel ihr Blick auf den Baum.
    Es gab nur diesen einen weit und breit. Er war ein immergrünes Savannengewächs, eine seltene Mutation aus Nadelholz und der fächerblättrigen, prähistorischen Übergangsform zu den Laubbäumen. Die korrekte botanische Bezeichnung lautete taxus biloba urticacea, aber wer ihn kannte, nannte ihn einfach »Scheißbaum«. Das passte genauso.
    Aruula wusste davon nichts, und es hätte sie auch nicht interessiert. Ihr Blick hing wie gebannt an der untersten Gabelung der starken, zusammengedrückt wirkenden Äste.
    Dort hockte eine kleine Gestalt, dick vermummt – und tot. Der Winterwind spielte mit dem Fell an ihrer nach vorn gefallenen Kapuze, und auf den Stiefelrändern lag ein Band aus Schnee.
    O Wudan, was für eine traurige Grabstätte, dachte Aruula voller Mitgefühl. Das Kind sitzt da wie ein Jungvogel im Nest.
    Als hätte man es dem Himmel entgegen heben wollen. Ist es das übliche Ritual der Dorfleute? Oder mussten sie es tun, weil der Boden gefroren ist?
    Aruula verstummte einen Moment, dann besann sie sich auf ihre Pflicht als gute Kriegerin und rezitierte in Gedanken ein Abschiedsgebet vom Volk der Dreizehn Inseln. Es wurde normalerweise für Kinder gesprochen, die deutlich älter als zehn Winter waren. Aruula wusste nicht, ob die kleine Gestalt in der Astgabelung tatsächlich so viel Zeit gehabt hatte. Es ließ sich aber herausfinden: Man brauchte nur ein wenig näher treten!
    Unschlüssig wanderte ihr Blick vom Baum zu den Hütten und zurück. Durch die Stille der Nacht wehte Kinderweinen – zumindest glaubte Aruula, es wären Kinder, und sie fühlte sich angezogen. Seit dem Verlust ihres ungeborenen Sohnes reagierte sie ein bisschen zu emotional auf kleine Menschen.
    Die Barbarin senkte den Kopf, konzentrierte sich und lauschte einen Moment. Was sie an Gefühlsbildern auffing, kam von Erwachsenen und war durchweg alltäglich. So machte sich Aruula auf den Weg.
    Er sollte eigentlich ins Dorf führen, aber dann entstand eine Lücke in der Wolkendecke und der Mond kam in Sicht. Wie die Sonne konnte auch er seit dem Bombeninferno das graue Totentuch der Luft nicht mehr durchbrechen – doch sein milchiges, unwirkliches Licht hatte kein Iota der magischen Wirkung eingebüßt. Es floss am Savannenbaum herunter, brachte den Schnee zum Glitzern und die Barbarin dazu, ihre Richtung zu ändern.
    Ich will nur mal nachsehen, ob auch alles seine Ordnung hat, log sich Aruula vor und stapfte dem Baum entgegen. Was trug er auf den Ästen? War es ein Junge? Ein Mädchen?
    Konnte man sehen, woran es gestorben war?
    Das Mondlicht verschwand. Zu früh, um diese Fragen zu klären, und entschieden zu schnell, um Aruula noch die welken Blätter im Schnee entdecken zu lassen. Plötzlich begann es unter ihren Füßen zu knacken. Kleine schwarze Stellen entstanden. Aruula brauchte nur einen Moment, um zu erkennen, dass das keine Verfärbung war, sondern dass der Schnee in einen Hohlraum kippte.
    Schlagartig brach der Boden weg. Aruula stürzte in die Tiefe – gefolgt von einem zerborstenen Zweiggeflecht und erwartet von einem Netz aus rauen Stricken. Die Barbarin verhedderte sich darin. Ehe sie auch nur einen Arm befreien konnte, wurde es laut im Dorf.
    Leute kamen angerannt, und ihre zornigen Stimmen klangen nach Tod…
    ***
    Zur gleichen Zeit, in Karachoto
    »Was war da draußen los?«, fragte Onnar, als Thurr zurückkehrte. Der Tongidd legte seine Axt beiseite und nahm wieder am Lagerfeuer
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