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157 - Das Erbe der Alten

157 - Das Erbe der Alten

Titel: 157 - Das Erbe der Alten
Autoren: Jo Zybell
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Rosens Schönheit und Klugheit. Mehr und mehr Trauernde stimmten ein.
    Man hatte die Toten gewaschen, eingeölt und in eine Hülle aus dem Blattwerk junger Korallenbäume gewickelt. Sieben Tjorks umgaben je eine der beiden Leichen oder hockten auf ihr. Das grünliche Sekret, das sie unentwegt absonderten, bedeckte die Toten schon fast vollständig.
    Die Sippe des alten Baumsprechers Starkholz hatte Windtänzers Sippe in ihrer Baumsiedlung aufgenommen. Nicht nur das Mädchen Marsblut und die Frau Rosen hatten die Mörder in den Tod gestürzt, nein – auch sämtliche Wohnbäume der Windtänzersippe hatten sie gefällt.
    Starkholz leitete das Bestattungsritual. Er war einer von zwei Stellvertretern des Ersten Baumsprechers Sternsang. Vogler, Baumsprecher einer Sippe von der Elysium-Seenplatte, unterstützte seinen ehemaligen Lehrer. Nur eine knappe Stunde vor Beginn der Feier war Vogler mit einer Ehrengarde am Totenbaum angekommen. Auf seiner rechten Schulter hockte ein dunkelgrauer Vogel mit grünem, rotem, blauem und violettem Schwingen- und Stoßgefieder – Voglers Gefährte Siebentöner.
    Die Tjorks hatten ihr Werk vollendet und zogen sich ein paar Meter von den Toten zurück. Auf eine Handbewegung von Starkholz hin verließen zwei Waldfrauen den Trauerkreis und betraten die Lichtung. Sie stiegen über die Käfer hinweg und gingen vor den Toten in die Hocke, um die Festigkeit der Sekrethüllen zu testen. Die waren fest genug, und die Frauen signalisierten es den Bausprechern durch ein Nicken.
    Starkholz legte den Kopf in den Nacken und machte eine Handbewegung ins Geäst über der Lichtung hinauf.
    Geflochtene Bastseile wurden aus der Totenbaumkrone hinuntergelassen. Weitere Männer und Frauen traten auf die Lichtung; einige kletterten an der Wendelstiege den Stamm hinauf, andere befestigten die im starr gewordenen Tjorksekret eingeschweißten Toten an den Seilen.
    Starkholz und Vogler hoben die Arme und stimmten den Abschiedshymnus an, und wer immer dazu in der Lage war, fiel mit ein. Unter dem Gesang des Trauerkreises wurden die Toten nun in den Baum hinauf gezogen und anschließend in der Krone befestigt. Marsblut bekam einen Platz in den Außenbereichen des Geästs. Rosen, die ältere, bettete man näher am Stamm in die Zweige. Ein Waldmensch, der alt und satt vom Leben starb, bekam in der Regel einen Platz im Stamm.
    Später versammelten sich die Trauernden zum Lebensmahl auf der Lichtung. Wie üblich bei solchen Anlässen gab es einen Getreidebrei mit sauren Waldbeeren und etwas gemahlener Starkbaumrinde. Das Rindenmehl gab dem sowieso schon säuerlichen Brei noch eine zusätzliche bittere Geschmacksnote.
    Eine sinnliche Mahnung an die Trauernden, angesichts der Bitterkeit des unausweichlichen Todes die Süße und die Lust des Daseins auszukosten, solange sie noch am Leben waren.
    »Wie geht es dem Städter Carter Loy Tsuyoshi?«, raunte Starkholz dem jüngeren Vogler während des Mahls zu.
    »Schlecht. Er windet sich auf der Grenze zwischen Leben und Tod.«
    »Zwissen Leben und Tod«, krächzte Faust. Der Siebentöner hockte auf Voglers Knie und pickte in dessen Breischüssel herum.
    »Seit dieser Mann von der Erde den Mars betreten hat, kann man zusehen, wie Gewalt und Herzlosigkeit wachsen.«
    Starkholz knurrte mehr, als dass er sprach. »Es ist, als hätte er eine Lawine losgetreten.«
    »Er ist die Lawine«, sagte Vogler finster. »Und ich mache mir große Sorgen um unsere Brüder, die in Gesellschaft einer solchen Lawine wandern. Hätte Windtänzer früher jemals einen Städter…?« Er verstummte unter dem tadelnden Blick des älteren Baumsprechers. Morgenblüte und Rotbeer, die den Wortwechsel mitbekommen hatten, hörten auf zu essen.
    »Im Wald heißt es, ein neuer Bruderkrieg würde ausbrechen, wenn der Städter unter deinem Wohnbaum stirbt«, sagte Rotbeer.
    »Das ist richtig.« Vogler nickte seelenruhig. »Und haben wir nicht eben schon seine ersten Opfer bestattet?«
    Darauf wollte keiner mehr etwas entgegnen. Auch der alte Starkholz nicht, obwohl die Blicke der Umsitzenden ihn anflehten. Stoisch und ohne erkennbare Gefühlsregung löffelte er seinen Brei. Windtänzers Tochter lehnte sich an ihn. Sie hatte verweinte Augen. »Warum kommt mein Vater nicht zur Bestattung seiner Lieblingsfrau?«, flüsterte Morgenblüte dem alten Starkholz ins Ohr.
    »Fragen wir ihn, wenn er zurückgekehrt ist«, sagte der mit einem verstohlenen Blick auf Vogler.
    »Was hat er bloß in Utopia zu schaffen?«, seufzte
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