1470 - Der Wechselbalg
Ein kurzer Hals und dann der Kopf.
Der war etwas Besonderes. Von der Proportion her passte er nicht so recht zum Körper. Er war einfach zu groß. Sein Gesicht kam mir nicht nur breit vor, sondern auch hoch, und das Haar lag wie eine Perücke auf der Schädeldecke.
Ich fragte mich im Geheimen, ob wir hier einem Kunstgeschöpf gegenübersaßen. Wenn ja, von wem war es dann geschaffen worden? Von den seltsamen Gesichtslosen?
Das lag für mich im Bereich des Möglichen, aber ich wollte nicht spekulieren. Seth saß vor uns, und er sollte uns die Fragen nach seiner Herkunft beantworten. Suko saß neben ihm, Wayne und ich den beiden gegenüber. Ich erkannte an Sukos Blick, dass er gern die Fragen gestellt hätte.
Ich nickte ihm zu.
Als hätte der Junge es gesehen, hob er plötzlich den Kopf an. Er bückte mich und Wayne aus großen Augen ins Gesicht und fragte mit leiser Stimme: »Ihr habt sie vertrieben?«
»Das haben wir«, sagte Rooney.
Ich schob eine Frage nach. »Aber wir wissen leider nicht, wen wir vertrieben haben. Ist es möglich, dass du uns darauf eine Antwort gibst?«
Er zögerte noch und wollte schließlich wissen, wie mein Name lautete.
»Ich heiße John Sinclair.«
»Ja, ja…«, sagte er und es hörte sich an, als wäre ihm mein Name nicht ganz unbekannt. »Sie sind hinter mir her«, sagte er dann.
»Wer?«
Er ging nicht darauf ein. »Ich kenne sie nicht genau, aber sie haben mich wieder weg und zu ihnen geholt. Ich – ich – wollte dort einfach nicht hin.«
»Warum nicht?« fragte Suko.
»Ich hatte mich an das andere Leben gewöhnt.«
»Wo fand es statt?«
»In einem kleinen Dorf. Es liegt sehr einsam. Man hat zu mir mal gesagt, dass ich ein Wechselbalg bin. Ich habe das nicht richtig verstanden und denke noch immer darüber nach.«
Nach dieser Erklärung horchte ich auf. Jetzt waren wir der Lösung schon ein Stück näher gekommen, denn der Begriff Wechselbalg sagte mir etwas.
Als Wechselbalg bezeichnete man ein oft missgestaltetes Kind, das einer Wöchnerin an Stelle des eigenen untergeschoben wurde. Im Volksglaube machte man zahlreiche Dämonen und Geister dafür verantwortlich, und das konnte auch hier der Fall sein.
Ob es allerdings so stimmte, musste sich erst noch herausstellen.
»Du bist also dort groß geworden?«
»Ja.«
Suko fragte auch jetzt weiter. »Bei deinen Eltern?«
»Wie andere auch.«
»Haben die Eltern dich gemocht?«
Seth musste überlegen. »Meine Mutter schon, aber nicht mein Vater, der mir den Namen Seth gegeben hat. Nur wenige Menschen wissen, wer sich dahinter verbirgt, ich aber habe mich kundig gemacht. Seth war und ist kein Guter. Er wird oft als hässlich beschrieben, und er soll sehr böse sein.«
»Da hast du Recht.«
»Meine Mutter hat das nicht gestört. Sie hat mich trotzdem gemocht. Nur mein Vater hat immer davon gesprochen, dass ich nicht sein eigenes Kind bin. Er hätte mich am liebsten weggegeben, was meine Mutter nicht wollte. Sie war sehr gläubig und sah es immer als Prüfung an, mich großzuziehen.«
»Und dabei hat sich keiner über deine Flügel gewundert?« fragte Suko weiter.
Seth hob die Schultern. »Sie waren nie so groß. Sie sind erst später gewachsen.«
»Was sagten die Menschen, die das sahen?«
»Es gab nicht viele. Nur meine Mutter sah es. Sie hat es hingenommen und manchmal gesagt, dass der Liebe Gott ihr einen Engel geschickt hätte.«
»Aber das bist du nicht?«
»Nein, das glaube ich nicht…«
Mit sehr ruhiger Stimme fragte ich: »Kannst du denn erklären, wer du überhaupt bist?«
»Ich kenne meinen Namen.«
»Ja, Seth, das weiß ich. Aber du musst irgendwoher gekommen sein. Hast du keine Eltern gehabt? Deine echten, denen man dich weggenommen hat? So meine ich das.«
»Das weiß ich nicht.«
»Aber ein Wechselbalg ist ein Kind, das vertauscht wurde«, sagte ich. »Wenn das alles so zutrifft, muss man einer Mutter das echte Kind weggenommen und dich dafür gebracht haben, von wem auch immer. Nur dann kann man sich den Begriff Wechselbalg erklären.«
»Ja, so war es. Man hat mich dann später zurückgeholt und das echte Kind meiner Mutter gegeben. So hat ein Austausch stattgefunden. Ich sollte bei den Gesichtslosen bleiben, jetzt, wo mich andere Eltern großgezogen und mir menschliche Gefühle vermittelt haben. Aber ich wollte nicht bei den Gesichtslosen bleiben. Ich habe fliehen können und bin hierher gekommen.«
Das Schicksal des Jungen berührte uns. Es gab allerdings noch mehr Fragen. Und diesmal
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