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11 - Nie sollst Du vergessen

11 - Nie sollst Du vergessen

Titel: 11 - Nie sollst Du vergessen
Autoren: Elizabeth George
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verborgen geblieben wäre. Wie dem auch sei, mir jedenfalls wurde immer nur gesagt, Großvater habe »Episoden«, die es hin und wieder notwendig machten, ihn zur Erholung »aufs Land« zu verfrachten. An Einzelheiten dieser Episoden kann ich mich nicht erinnern; ich war erst zehn Jahre alt, als mein Großvater starb. Aber ich weiß, dass sie stets nach dem gleichen Muster abliefen: Zuerst gab es ein entsetzliches Gepolter und Gezeter, dann begann meine Großmutter zu weinen, und am Ende, wenn sie ihn wegbrachten, schrie mein Großvater meinen Vater an, er wäre nicht sein Sohn.
    Wer sind sie?, fragen Sie.
    Ich nannte sie die Unterirdischen. Sie sahen aus wie ganz normale Menschen, aber sie waren Seelenräuber. Stets ließ mein Vater sie ins Haus. Stets kam Großmutter ihnen weinend auf der Treppe entgegen. Und stets gingen sie ohne ein Wort an ihr vorbei, weil alles, was sie zu sagen hatten, schon mehr als einmal gesagt worden war. Sie kamen nämlich schon seit Jahren regelmäßig, um Großvater abzuholen. Das hatte bereits lange vor meiner Geburt begonnen, lange bevor ich wie eine kleine Kröte hinter dem Treppengeländer hockte und sie voller Angst beobachtete.
    Ja. Sie brauchen gar nicht zu fragen, ich erinnere mich an diese Angst. Und ich erinnere mich auch noch an etwas anderes. Ich weiß, dass irgendjemand mich vom Treppengeländer wegzog, meine Finger einen nach dem anderen öffnete und mich wegführte.
    Raphael Robson?, fragen Sie. Ist das der Moment seines Auftritts?
    Nein. Das war Jahre vor Raphael Robson. Raphael kam erst nach dem Peabody-Haus.
    Wir sind also beim Peabody-Haus, sagen Sie.
    Ja. Beim Peabody-Haus und der Gideon-Legende.

19. August
    Erinnere ich mich wirklich an das Peabody-Haus? Oder habe ich die Einzelheiten erfunden, um einen Rahmen zu füllen, den mein Vater mir vorgegeben hatte? Könnte ich mich nicht genau daran erinnern, wie es im Inneren des Hauses roch, so würde ich sagen, dass ich lediglich die Geschichten meines Vaters wiederhole, wenn ich, so wie jetzt, im Stande bin, mir das Peabody-Haus aus dem Hirn zu zupfen. Aber ein Geruch nach Bleiche kann mich auch heute noch in Sekundenschnelle in das Peabody-Haus zurückversetzen, und daher weiß ich, dass zumindest der Kern der Geschichte wahr ist, ganz gleich, wie weit sie im Lauf der Jahre von meinem Vater, meiner PR-Agentin und den Journalisten, die mit den beiden gesprochen haben, ausgeschmückt wurde. Ich selbst beantworte schon lange keine Fragen mehr über das Peabody-Haus. Ich sage: »Das sind doch alte Geschichten. Gibt es keine aktuelleren Themen?«
    Aber Journalisten haben immer gern einen Aufhänger für ihre Story, und was könnte sich für die Leute, die sich, dem strikten Befehl meines Vaters gemäß, bei ihren Interviews mit mir auf Fragen nach meiner Karriere zu beschränken haben, besser als Aufhänger eignen als die kleine Anekdote, die mein Vater aus einem schlichten Spaziergang in den Grünanlagen am Kensington Square fabriziert hat:
    Ich bin drei Jahre alt und in Begleitung meines Großvaters. Ich strample auf meinem Dreirad auf dem Weg rund um die Anlagen herum, während Großvater in diesem kleinen tempelähnlichen Bauwerk beim schmiedeeisernen Zaun sitzt, wo man notfalls vor Regen geschützt ist. Er hat sich eine Zeitung mitgenommen, aber er liest nicht darin. Er lauscht vielmehr einer Musik, die aus einem der Häuser hinter ihm erklingt.
    »Das nennt man ein Konzert, Gideon«, erklärt er mir mit ehrfürchtig gedämpfter Stimme. »Das ist Paganinis D-Dur-Konzert. Horch!« Er winkt mich näher zu sich. Er sitzt ganz am Ende der Bank. Ich stelle mich neben ihn, er legt mir den Arm um die Schultern, und ich horche.
    Ich brauche nur einen Moment, um zu wissen, dass dies meine Bestimmung ist. Mich, den Dreijährigen, trifft eine Erkenntnis, die mich seither nie mehr verlassen hat: Wenn ich zuhöre, dann bin ich; wenn ich spiele, dann lebe ich.
    Ich dränge Großvater, sofort zu gehen. Mit seinen arthritischen Händen hat er Mühe, das Tor zu öffnen. Ich treibe ihn an, bitte ihn, sich zu beeilen, »bevor es zu spät ist«.
    »Zu spät, wofür?«, fragt er nachsichtig.
    Ich nehme ihn bei der Hand und zeige es ihm.
    Ich ziehe ihn zu dem Peabody-Haus, denn von dort erklingt die Musik. Wir treten ein. Von dem frisch geschrubbten Linoleumboden steigt ein so durchdringender Geruch nach Bleiche auf, dass es uns in den Augen brennt.
    Oben, im ersten Stock, stoßen wir auf die Quelle der Musik. In einem der
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