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11 - Nie sollst Du vergessen

11 - Nie sollst Du vergessen

Titel: 11 - Nie sollst Du vergessen
Autoren: Elizabeth George
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ich Musik mag. Ich weiß nur, ich möchte auch solche Musik machen können. Aber ich bin schüchtern und sage nichts, sondern verstecke mich hinter der Italienerin, die mich schließlich an der Hand nimmt, sich in ihrem etwas schwerfälligen Englisch entschuldigt und mich wieder nach draußen führt.
    So war es wirklich.
    Natürlich möchten Sie jetzt wissen, wie dieser wenig verheißungsvolle Beginn meines Lebens als Musiker sich in die Gideon-Legende verwandelte. Wie, um es anders auszudrücken, aus der weggeworfenen Waffe, die in einer Höhle hundert Jahre Kalk ansetzte, Excalibur wurde, das Schwert im Stein. Ich kann nur Mutmaßungen anstellen, da die Legende das Machwerk meines Vaters ist, nicht meines.
    Am Ende des Tages, wenn die Kinder der Spielgruppe nach Hause gebracht wurden, erhielten die Eltern in der Regel einen kurzen Bericht über Entwicklung und Verhalten ihres Sprösslings. Das war es ja wohl, was sie sich von der Investition erhofften: tägliche Hinweise darauf, dass die soziale Reife ihres Kindes Fortschritte machte.
    Weiß der Himmel, was die Eltern des kleinen Pinkelhelden an diesem Nachmittag zu hören bekamen. Meine Eltern jedenfalls hörten von meiner Begegnung mit Rosemary Orr.
    Ich vermute, die Berichterstattung spielte sich bei uns zu Hause im Wohnzimmer ab, wo Großmutter den Tee kredenzte, den sie Großpapa jeden Nachmittag auftischte, um ihn in eine Atmosphäre alltäglicher Normalität einzubetten und vor einem Überfall durch eine »Episode« zu schützen. Vielleicht war mein Vater auch da, vielleicht gesellte sich auch James, der Untermieter, dazu, der eines der leer stehenden Zimmer im dritten Stockwerk des Hauses gemietet hatte und so dazu beitrug, dass wir finanziell über die Runden kamen.
    Die italienische Studentin - ich muss allerdings sagen, dass sie genauso gut Griechin, Spanierin oder Portugiesin gewesen sein kann - wurde zweifellos aufgefordert, eine Tasse Tee mit uns zu trinken, und hatte somit hinreichend Gelegenheit, die Geschichte unserer Begegnung mit Rosemary Orr zu erzählen.
    »Der Kleine«, sagte die Italienerin, »wollte die Musik suchen gehen, der wir gelauscht haben, und da sind wir ihr nachgespurt -«
    »Sie meint wahrscheinlich ›gehört‹ und ›nachgegangen‹«, wirft der Untermieter ein, der, wie ich schon erwähnte, James heißt. Des Öfteren habe ich meinen Großvater empört trompeten hören, sein Englisch sei »zu perfekt, um wahr zu sein«, und er könne nur ein Spion sein. Ich höre ihm trotzdem gern zu. Die Worte rollen James, dem Untermieter, von den Lippen wie goldene Orangen, saftig und rund. Er selbst allerdings ist alles andere als saftig und rund, nur seine Wangen, die sind rund und rot und röten sich noch mehr, wenn er merkt, dass er im Mittelpunkt der Aufmerksamkeit steht.
    »Erzählen Sie weiter«, sagt er zu der italienischspanisch-griechisch-portugiesischen Studentin. »Achten Sie nicht auf mich.«
    Sie lächelt. Der Untermieter gefällt ihr. Ich vermute, sie hätte nichts dagegen, wenn er ihr helfen würde, ihr Englisch zu verbessern. Sie wäre gern gut Freund mit ihm.
    Ich selbst habe keine Freunde - trotz der Spielgruppe -, aber ich habe nicht das Gefühl, dass mir etwas fehlt. Ich habe ja meine Familie, in deren Liebe ich eingebunden bin. Mein Leben spielt sich ganz anders ab als das der meisten Kinder meines Alters, die von der Erwachsenenwelt isoliert im Kinderzimmer hausen, von irgendeiner Kinderfrau betreut ihre Mahlzeiten allein einnehmen und, abgesehen von periodischen Auftritten im Kreis der Familie, nur eine eng begrenzte Welt kennen lernen, bis sie endlich eines Tages ins Internat verfrachtet werden. Nein, ich habe Anteil an der Welt der Erwachsenen, mit denen ich zusammenlebe. Ich bekomme sehr viel von dem mit, was in meinem Zuhause geschieht, und wenn ich mich vielleicht auch nicht an die Ereignisse selbst erinnere, so sind mir doch die Eindrücke gegenwärtig, die sie hervorgerufen haben.
    Ich entsinne mich also dessen: Wie die Geschichte von der Geigenmusik erzählt wird und Großvater mit einer ausführlichen Erörterung von Paganinis Musik mitten hineinplatzt. Großmama setzt seit Jahren Musik ein, um ihn zu beruhigen, wenn eine »Episode« droht und noch Hoffnung besteht, sie abzuwenden, und nun lässt er sich mit einer Bestimmtheit, die sich wie Autorität anhört, aber, wie ich heute weiß, nichts als Größenwahn ist, über Triller und Strich, über Vibrato und Glissandi aus. Er schwadroniert mit dröhnender
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