Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
11 - Nie sollst Du vergessen

11 - Nie sollst Du vergessen

Titel: 11 - Nie sollst Du vergessen
Autoren: Elizabeth George
Vom Netzwerk:
Stimme, ein ganzes Orchester für sich allein, und keiner unterbricht ihn oder widerspricht ihm, als er im Tonfall Gottes, der Licht befiehlt, der Runde verkündet: »Dieser Junge wird spielen!« Und damit meint er mich.
    Mein Vater hört das, entnimmt den Worten eine Bedeutung, die niemand mit ihm teilt, und leitet unverzüglich die erforderlichen Schritte ein.
    So kommt es, dass ich schon bald bei Miss Rosemary Orr die ersten Geigenstunden erhalte. Und aus diesen Unterrichtsstunden und diesem Bericht nach der Spielgruppe konstruierte mein Vater die Gideon-Legende, die ich seither mitschleppe wie einen Klotz am Bein.
    Aber warum hat er Ihren Großvater zu einer Hauptperson der Legende gemacht? Das möchten Sie doch jetzt gern wissen, nicht wahr? Warum hat er den Kern nicht einfach gelassen und nur die Details hier und dort ein wenig ausgeschmückt? Fürchtete er denn nicht, es würde irgendwann jemand auftauchen, um der Legende zu widersprechen und die wahre Geschichte zu erzählen?
    Darauf kann ich Ihnen nur eine Antwort geben, Dr. Rose: Fragen Sie meinen Vater.

21. August
    Ich entsinne mich der ersten Stunden bei Rosemary Orr.
    Ich entsinne mich vor allem meiner Ungeduld, die ständig mit ihrer pingeligen Genauigkeit im Streit lag.
    »Spüre deinen Körper, Gideon, mein Kind. Spüre deinen Körper«, sagt sie. Und die Sechzehntelgeige zwischen Kinn und Schulter geklemmt - das kleinste Instrument, das damals zu haben war -, erdulde ich Miss Orrs fortwährende korrigierende Eingriffe in meine Körperhaltung. Sie krümmt meine Finger, sodass sie halbrund über dem Griffbrett stehen; sie dreht mir den Unterarm unter das Griffbrett; sie zieht meine Schulter zurück, damit diese nicht die Bogenführung stört; sie drückt mir den Rücken durch und schlägt mir mit einem Lineal leicht auf die Innenseiten der Beine, um mich zu veranlassen, die Fußspitzen nach außen zu drehen. Und wenn ich spiele - wenn ich endlich einmal spielen darf -, übertönt ihre Stimme die Tonleitern und Arpeggios, die meine ersten Übungen sind: »Oberkörper aufrecht, Gideon, Kind, und die Schulter locker«, »Daumen an der Einbuchtung des Bogens und nicht zu weit oben«, »Beim Aufstrich führt der ganze Arm den Bogen«, »Die Striche sind kräftig und voneinander getrennt«, »Nein, nein! Du spielst mit den Ballen der Finger, mein Kind.« Immer wieder muss ich einen Ton spielen und zum nächsten ansetzen. Immer wieder machen wir diese Übung, bis alle Körperteile, die als Verlängerung der rechten Hand gelten können - das heißt das Handgelenk, der Ellbogen, der Arm und das Schulterblatt -, zu ihrer Zufriedenheit funktionieren und mit dem Bogen zusammenwirken wie die Achse mit dem Rad.
    Ich lerne, dass meine Finger unabhängig voneinander arbeiten müssen. Ich lerne, genau die Stelle auf dem Griffbrett zu finden, von wo aus meine Finger später wie von Luft getragen von einem Punkt auf den Saiten zum nächsten gleiten können. Ich lerne, mein Instrument zum Klingen zu bringen. Ich lerne den Aufstrich und den Abstrich, staccato und legato, détaché und spiccato.
    Kurz, ich lerne Technik, Theorie und Prinzip, nur das, was ich unbedingt lernen möchte, lerne ich nicht: Wie man den Geist sprengt, um den Klang hervorzubringen.
    Achtzehn Monate harre ich bei Miss Rosemary Orr aus, aber bald werde ich der seelenlosen Übungen müde, die meine Zeit auffressen. Was ich damals auf dem Platz hörte, war nicht das Produkt seelenloser Übungen, und ich bäume mich heftig dagegen auf, ihnen unterworfen zu werden.
    Ich höre, wie Miss Orr dies meinem Vater gegenüber entschuldigt: »Er ist ja doch noch sehr klein. Es war eigentlich zu erwarten, dass in diesem Alter das Interesse nicht allzu lange anhalten würde.« Aber mein Vater - der sich zu dieser Zeit bereits einen zweiten Arbeitsplatz gesucht hatte, um der Familie das Zuhause am Kensington Square erhalten zu können - hat den Unterrichtsstunden, die dreimal wöchentlich stattfinden, nie beigewohnt und daher auch nie Gelegenheit gehabt, zu erleben, wie diese Art des Unterrichts der Musik, die ich liebe, alles Leben entzieht.
    Dafür ist mein Großvater, der in diesen anderthalb Jahren nicht einen seiner »Episoden« genannten Anfälle hat, die ganze Zeit dabei. Er bringt mich regelmäßig zu den Stunden und hört, in einer Ecke des Zimmer sitzend, den Übungen zu. Mit scharfem Blick und einer Seele, die nach Paganini dürstet, registriert er Form und Inhalt des Unterrichts und gelangt zu der
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher