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109 - Die Atemdiebin

109 - Die Atemdiebin

Titel: 109 - Die Atemdiebin
Autoren: Bernd Frenz
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was kümmerte ihn schon das Leichenhemd der Fremden? Zitternd streckte er seine Rechte nach dem silbernen Anhänger aus, zögerte kurz und griff dann hastig zu. Seine Fingerkuppen versanken ungewöhnlich tief in dem weichen Stoff, der sie hauteng umgab. Ein Prickeln lief über seine Hand und pflanzte sich explosionsartig den Arm empor fort, bis hinauf in seine Schulter. Einen Moment lang fürchtete er schon, sich geschnitten zu haben, aber das konnte gar nicht sein. Er hielt das gravierte Silberplättchen zwischen Daumen und Zeigefinger, ohne den Rand zu berühren.
    Hastig versuchte er die Kette über den Kopf der Mumie zu streifen, doch als er die Rechte anheben wollte, stellte er zu seinem Entsetzen fest, dass eine blaue Masse an seinen Fingern klebte, beinahe so, als hätte er in einen Topf voll Sirup gegriffen. Die klebrige Substanz, die er für Stoff gehalten hatte, zog dicke Fäden, ohne die Verbindung zu dem Gewand zu verlieren. Der Schmerz in seiner Hand wuchs rasend schnell an. Paoul konnte sie plötzlich nicht mehr heben, fühlte sich wie gelähmt.
    Schwäche erfasste ihn. Sie ließ seine Knie erzittern und brachte ihn ins Taumeln.
    Der Fluch!, schoss es siedend heiß durch seinen Kopf. Die alten Götter wollen mich für meinen Diebstahl strafen!
    Das Entsetzen sprang ihn an wie ein wildes Tier, langte nach seiner Kehle und drückte unbarmherzig zu. Vergeblich mühte er sich, nach Hilfe zu rufen. Kein einziger Laut drang über seine zitternden Lippen.
    So blieb ihm nichts weiter übrig, als Wudan im Stillen um Beistand zu bitten und sich aus eigener Kraft zu befreien.
    Mühsam löste er die Finger von dem Anhänger und warf sich mit seinem ganzen Gewicht zurück. Ein verzweifelter Versuch, doch von Erfolg gekrönt. Die blaue Masse geriet an den höchsten Grad ihrer Ausdehnung, pellte sich endlich von seiner Haut und schlug klatschend zurück.
    Wimmernd presste Paoul die Rechte gegen seinen Leib.
    Blut strömte von den Fingerkuppen, dort wo die Haut abgerissen war und rohes Fleisch schimmerte.
    Raus hier!, schrie es in ihm. Fort von dieser elenden Mumie und dem zähflüssigen Gewand voller kreisender und wabernder Schlieren. Doch ehe Paoul einen Schritt zwischen sich und die Mumie bringen konnte, packte ihn etwas oberhalb des linken Handgelenks und zerrte ihn zurück.
    Paouls Herz zersprang beinah vor Schreck. Entsetzt starrte er auf die dürre Totenklaue, die seinen schwarz anlaufenden Arm fest umklammerte. Schmerzhafte Wallungen jagten durch seinen Körper, als würde plötzlich die doppelte Menge Blut durch seine Adern pumpen.
    Tränen benetzten seine Augen, während die linke Körperhälfte zu prickeln und zu brennen begann. Wie durch einen feuchten Nebel starrte er auf die Mumie herab und wollte zuerst nicht glauben, was er sah. Die Falten ihres eingefallenen Gesichts begannen sich im gleichen Maße zu glätten, wie seine Schwäche anwuchs!
    Paoul versuchte noch, die Gefährten hinter der Glaswand zu warnen, die viel zu beschäftigt waren, um seinen Kampf zu bemerken. Doch es war zu spät. Seinen Beinen fehlte die Kraft, das Körpergewicht zu tragen. Paoul sah nur noch, wie die Lider der Mumie aufsprangen und zwei leuchtend blaue Augen freilegten. Dann kippte er vornüber. Hinein in den bodenlosen schwarzen Schacht des Todes, aus dem es keine Wiederkehr gab…
    ***
    Rhone-Tal, nördlich von Lyon
    Drei Monate später
    »Wunderschön«, sagte Aruula und lehnte ihren Kopf an Matts Schulter.
    Der Pilot konnte der Einschätzung nur zustimmen. Die Linke um die Hüfte seiner barbarischen Gefährtin gelegt, sah er zu der aus bloßem Fels geschlagenen Skulptur auf, die inmitten eines Wasserfalls gut zehn Meter in die Höhe wuchs. Es war die Darstellung einer Frau, die ein knielanges Lendentuch um die Hüften trug, beide Hände auf Kopfhöhe erhoben, als ob sie die links und rechts vorüber schäumenden Gebirgsströme auffangen wollte, bevor sie in die Tiefe stürzten. Die Bildhauer mussten Jahre gebraucht haben, um den natürlichen Vorsprung, der das Wasser an dieser Stelle in zwei Vorhänge teilte, zu einer derart lebendigen Figur zu formen. Sicher ein gefährliches Unterfangen, das der eine oder andere nicht überlebt hatte.
    Doch das Ergebnis musste alle Mühen wert gewesen sein.
    Die Proportionen der Statur stimmten bis auf das letzte Glied.
    Obwohl das rückwärtige Drittel der Figur fest in dem Steinmassiv wurzelte, sah es so aus, als ob sie jeden Augenblick zwischen dem Wasservorhang hervortreten
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