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1001 Nachtschichten

1001 Nachtschichten

Titel: 1001 Nachtschichten
Autoren: Osman Engin
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hierfür seien höchstwahrscheinlich die steigende Kündigungsgefahr und der fallende Hormonspiegel.
    So ist sie, die Zweitgrößte Nervensäge des Mittleren Orients. Alles, was ich habe, wird kleingemacht, für dämlich und banal erklärt. Nicht mal eine echte, wohlverdiente Mitleif-Kreisis gönnt sie mir.
    Auf jeden Fall fühle ich mich total mies, und alles tut mir weh. Und alles macht mich zurzeit fertig, selbst Dinge, über die ich früher milde gelächelt habe.
    Zum Beispiel sehe ich gestern Abend im Fernsehen, dass ein siebzehnjähriger türkischer Junge ein großer Fußballspieler geworden ist und dass sein Vater dadurch Millionen bekommt. Was macht dagegen mein Sohn Mehmet? Mit hundert Jahren studiert er immer noch irgendwas, von dem ich immer noch nicht weiß, was es ist, und pumpt mich ständig um Geld an!
    Und wie gesagt, immer wenn ich in meinem Ford-Transitsitze und durch die Straßen fahre, dann erwischt es mich am allerschlimmsten. Alle zwei Meter muss ich mir gut gebaute, tadellose, prächtig geformte nackte Männerkörper mit Waschbrettbauch anschauen, die mir von den riesigen Plakatwänden gut gelaunt, selbstbewusst und angeblich freundlich entgegenlächeln. Aber ich kann an ihrem fiesen Grinsen und ihren hinterhältigen Blicken ihre wahre Meinung sofort herauslesen:
    »Du nicht, Osman! Du kannst machen, was du willst, du wirst nie so toll aussehen wie wir! Aus dir wird nichts mehr, mein Junge!«
    Einige von denen sitzen sogar auf der Motorhaube eines teuren, funkelnagelneuen roten italienischen Sportautos, während sie spöttisch auf mich herabblicken. Und ich schaue aus meinem alten, klapprigen, grasgrünen 68er Ford-Transit verschämt und erniedrigt zurück. Zu allem Überfluss haben diese tollen Muskelmänner auch eine wahnsinnig hübsche Frau mit schicken und teuren Klamotten neben sich sitzen. Und was habe ich neben mir sitzen? Eine alte, verbeulte Thermoskanne mit lauwarmem Hagebuttentee!
    »Ossi, geh doch schoppen«, sagt meine Frau. »Kauf dir bunte, schrille Kleider, lass dir einen richtig feschen Haarschnitt und eine völlig abgedrehte Haarfarbe verpassen. Danach geht’s jedem besser!«
    »Eminanim, um wie diese Angeber auf den Plakaten auszusehen, brauche ich gravierende Einschnitte in meinem Leben und vor allen Dingen an meinem Körper. Ich muss zentnerweise Fett absaugen lassen und dafür sofort massenweise Muskeln bekommen. Ich muss Hundertevon Falten im Gesicht wegbügeln und dafür Tausende von Haaren auf dem Kopf kriegen. Ich muss ein tolles weißes Gebiss bekommen und das dämliche Hörgerät loswerden. Ich muss …«
    »Ossi, gibt’s auf! An dir würden sich die hundert besten Schönheitschirurgen die Zähne ausbeißen und heulend den Beruf aufgeben. Dich kann eigentlich nur eine Wiedergeburt retten; zum Beispiel als niedliches Gorilla-Bäby«, lacht sie vergnügt.
    Wie immer, wenn mich die Welt nicht lieb hat, haue ich mich auf meinem Lieblingssofa aufs Ohr und verschließe fest die Augen, damit ich das Elend nicht sehen muss!

Mittwoch, 30. Juni
    Endlich ist es so weit! »Heute wird dem Kalb der Schwanz abgerissen!«
    Ich weiß nicht, warum mein Onkel Ömer immer diesen grässlichen Spruch ablässt, wenn an einem Tag eine ganz wichtige Entscheidung ansteht. Ich habe auch keine Ahnung, ob in Wahrheit ich mit diesem Kalb gemeint bin, das sich gleich von seinem geliebten Schwanz für immer verabschieden muss!
    Auf jeden Fall werden heute die 1001 Nachtschichten ein endgültiges Ende finden – so oder so!
    1002 wird es nicht geben, nicht mal 1001,5.
    Ich bin so was von aufgeregt!
    Jetzt kann ich die nervliche Belastung von Fußballern, die gleich ins Stadion müssen, um ein W M-Endspiel zu bestreiten, sehr gut am eigenen Leib nachvollziehen.
    Wie alle Vergleiche hinkt dieser natürlich auch ein wenig. Bei einer Niederlage werden die Fußballer immerhin Vizemeister. Aber ich werde zum Meister aller Versager erklärt!
    »Sein oder Arbeitslossein, das ist hier die Frage, wie unser guter, alter Willjäm immer zu sagen pflegte. Viel Glück, Vater«, ruft mir mein Sohn Mehmet hinterher, der gerade völlig übermüdet von seinen nächtlichen Abenteuernnach Hause kommt. Das Weichei! Was immer er auch heute Nacht getrieben hat, es war mit Sicherheit nicht so anstrengend wie eine einzige Schicht in Halle 4.

    Ein anderes Sprichwort, das Onkel Ömer gerne gebraucht, lautet: »Ein toter Esel braucht keine Angst mehr vor den Wölfen zu haben«. Deshalb gehe ich heute erst mal in aller Ruhe
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