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0941 - Das unheile London

0941 - Das unheile London

Titel: 0941 - Das unheile London
Autoren: Adrian Doyle
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dem Umgang mit den Toten sprach.
    Inzwischen dachte Shipley anders. Inzwischen wusste er, was die Krankheit aus den Menschen machte, auch aus ihm gemacht hatte. Er war nicht mehr derselbe wie früher, auch nicht im Geiste.
    Plötzlich hörte beides - Räderrollen und Hufschlag - jäh auf.
    Shipley lauschte.
    Für einen Moment schien die Stille wie eingefroren. Nicht einmal ein Lüftchen schien sich zu regen, doch dann ... ... dröhnte mit einem Mal infernalisches Gekreische durch die Gassen!
    Obwohl er wenige Herzschläge zuvor noch geschworen hätte, dass ihn nichts mehr aus der Ruhe oder Fassung bringen konnte, weil ihm bereits alles widerfahren und geschehen war, was einem Menschen nur passieren konnte, musste Shipley diese Überzeugung revidieren.
    Er zitterte wie Espenlaub.
    Er war nicht in der Lage, es abzustellen, wurde regelrecht geschüttelt. Gleichzeitig flammte der Schmerz wieder durch das taub geglaubte Fleisch. Dumpfes Stöhnen rann über seine von Geschwüren bedeckten Lippen. Er hustete, spuckte Blut, lauschte, konnte gar nicht weghören.
    Das Kreischen steigerte sich immer weiter.
    Bis es… irgendwann doch verebbte.
    Als wieder Bewegung in Shipley kam, kroch er aus seinem Unterschlupf. Wie sehr der Vorfall ihn verwirrte und sein Denken vereinnahmte, merkte er erst Minuten später, als er sich dabei ertappte, wie er durch die Straße wankte.
    Er hatte Paula einfach zurückgelassen. Sie war völlig aus seiner Gedankenwelt ausgeblendet gewesen. Wie hatte er das tun können? Sie würde ihn ewig dafür verachten, selbst im Jenseits…
    Trotzdem hielt er nicht inne, sondern torkelte weiter in die Richtung, aus der die fürchterlichen Schreie gekommen waren. Kein Mensch begegnete ihm unterwegs. Offenbar war er der einzige Narr, der sich von dem Ereignis anlocken ließ, die anderen waren klug genug, sich noch tiefer irgendwo zu verkriechen.
    Marvin Shipley bog um eine Ecke. Von hier aus konnte er den freien Platz vor der Westminster Abbey überblicken.
    Tote zu sehen, war in diesen Tagen zur Normalität verkommen.
    Aber nicht…
    Shipley schluckte panisch.
    ... solche Toten.
    ***
    Wieso nahm er nicht die Beine in die Hand und gab Fersengeld? Warum stakste er stattdessen auf die Zeugnisse des Massakers zu, als gäbe es den Ablass aller je begangenen Sünden zu erringen?
    Während er wankend auf die Gemeuchelten zustolperte, bemerkte er aus den Augenwinkeln Bewegung. Offenbar kamen nun doch auch andere aus ihren Häusern und Verstecken. Rufe nach der Obrigkeit wurden laut, aber es zeigten sich keine Mannen, die im Sold des Monarchen standen, nur einfache Bürger oder lichtscheues Gesindel wie Shipley.
    Um ihn machten die anderen einen großen Bogen, schon als sie ihn von Weitem kommen sahen. Die verräterischen Male und Beulen bemerkten sie erst spät - aber dann flohen sie nach allen Richtungen. Die Gräuel auf dem Platz flößten ihnen nur halb so viel Entsetzen ein wie Shipleys Anblick.
    Es war ihm egal.
    Ihm war fast alles egal. Gleichzeitig aber übte das Bild, auf das er zusteuerte, eine pittoreske Faszination aus.
    Er spürte, wie der Wahnsinn, der in ihm brannte, erst ein winziges Flämmchen war, auf das aber jemand hochprozentigen Fusel goss, sodass es zu einem inneren Flächenbrand kam.
    Die Szenerie vor ihm war der nackte Irrsinn.
    Der Platz, auf dem die Toten in ihrem Blut und Innereien lagen, sah selbst aus, als wäre er mit einer gigantischen Axt oder sonst einer Klinge aufgespalten, aufgeschnitten worden. Überall im Boden waren Risse; manche der Toten hingen hinein, waren nur zur Hälfte noch an der Oberfläche, und ebenso erging es zwei Gäulen, in deren unmittelbarer Nähe die Trümmer eines Karrens lagen, der aussah, als wäre ein Felsbrocken darauf gefallen und hätte ihn zermalmt. Die vormals darauf gestapelten Leichen hatte es nach überall hin katapultiert. Sie sahen mit ihren geschwärzten Gliedmaßen und den Pestbeulen noch fast gut aus im Vergleich zu den frischen Toten, von denen manche noch Ketten trugen und ein anderer die typische Kleidung eines Wärters. Ansonsten aber waren sie so verstümmelt und massakriert, dass wahrscheinlich nicht einmal die nächsten Verwandten mehr in der Lage gewesen wären, sie zu identifizieren.
    Offenbar hatte schon vor Morgengrauen der Regen aufgehört, trotzdem glänzte der gepflasterte Platz vor Nässe, auf die sich Shipley keinen Reim machen konnte. Nicht die Blutlachen und -spritzer irritierten ihn, sondern das Schleimige, das überall in der
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