Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
0941 - Das unheile London

0941 - Das unheile London

Titel: 0941 - Das unheile London
Autoren: Adrian Doyle
Vom Netzwerk:
Nähe der Leichen glänzte; es sah aus, als wären Millionen Schnecken über den Platz gezogen und hätten ihre Spur hinterlassen.
    Welch ein Aberwitz.
    Marvin wollte sich in Erinnerungen an Paula flüchten, aber irgendwie gelang es ihm nicht, ihr Bild abzurufen.
    Der Boden unter seinen Füßen schien zu vibrieren, und plötzlich fiel ihm ein, dass er dieses Gefühl auch vorhin schon einmal gehabt hatte, kurz bevor der Hufschlag und das Rollgeräusch der Räder verstummt waren und die schrecklichen Schreie begonnen hatten.
    Vor ihm, genau dort, wohin er gerade seinen nächsten Schritt setzen wollte, bildete sich ein Sprung zwischen den Pflastersteinen. Viel zu lange sah er gebannt auf die Stelle, und dann schob sich der Boden auch schon drei Yards auseinander… und Shipley trat ins Leere.
    Irgendetwas verlangsamte sein Denken. Vielleicht die Seuche, die in ihm fraß, aber vielleicht auch etwas vollkommen anderes, das von außerhalb auf seinen Verstand einwirkte…
    Ein ohrenbetäubender Donner erschallte. In dem Moment, als Shipley vornüber in den Spalt zu stürzen drohte.
    Etwas pfiff über und neben ihn hinweg. Sengend heiß.
    Irgendwo rückten Männer in Uniformen heran. Wieder krachte es - aber vorher schon vollführte Shipley, als wäre er nach einer durchzechten Nacht schlagartig nüchtern geworden, eine schier unmöglich anmutende Bewegung. Er drehte sich im Fallen seitwärts und verlieh seinem Körper mit dem einen Fuß, der noch auf festem Grund stand, so viel Schwung, dass er wie von der Druckwelle einer Explosion getragen jenseits des Erdrisses aufkam und sich sofort weiterrollte.
    Ihm wurde schwindelig, aber irgendwie kam er erst auf alle viere und dann auf die Beine. Als er zurückschaute, sah er etwas aus dem Spalt hervorbrechen. Es sah aus wie der Tentakel eines Seeungeheuers, von dem Matrosen in den Schenken zu berichten wussten.
    Da draußen auf den Wassern, die noch viel scheußlicher und tiefer und breiter waren als die Themse, hausten die tödlichsten und mächtigsten Kreaturen, die sich ein Menschenhirn nur vorstellen konnte. Dämonen des Meeres. Abschaum und Verdammnis für jeden, der ihnen begegnete.
    Aber was suchten sie hier - an Land, mitten im königlichen London?
    Shipley hatte nicht mehr das Gefühl zu brennen, sondern das Gegenteil. Es war, als wäre seine Haut zu einem dicken Eispanzer geworden - nein, wieder falsch: Als hätte sich unter der Haut eine Eisschicht gebildet, die es ihm zwar noch erlaubte, sich zu bewegen, die ihn aber auch fast umbrachte vor Gletscherkälte…
    Dicht neben ihm bildete sich der nächste Riss. Diesmal reagierte Shipley schneller. Aber eigentlich war es nicht sein Verstand, sondern seine Instinkte, die ihn retteten.
    Er wusste nicht, wie er es schaffte, aber nach einer Weile brach er irgendwo im Schatten der Häuser, die den großen Platz vor der Abtei säumten, zusammen, und sein glühender, frierender Körper richtete sich wie eine Kompassnadel dorthin aus, wo erneut Tod und Verderben um sich griffen.
    Es waren tatsächlich königliche Soldaten aufmarschiert, und was sie mit sich führten und in Stellung gebracht hatten, war Shipley bis zu diesem Moment nur vom Hörensagen bekannt gewesen - aber er hatte keinen Zweifel, dass das eines der unglaublichen Geschütze war, mit denen Eduard III. auf den Schlachtfelder Frankreichs für Furore gesorgt haben sollte - ein Rabauld !
    Das gefürchtete Salvengeschütz bestand aus zwölf kleinkalibrigen Eisenrohren, die entsprechend viele Geschosse auf einmal abfeuerten.
    Das also waren die Kugeln gewesen, die Shipley vorhin an sich vorbeipfeifen gespürt hatte. Ob auch nur eine etwas von dem getroffen hatte, was jetzt immer heftiger aus dem Boden drängte, wusste er nicht. Jedenfalls wirkte das Ungeheuer davon bislang gänzlich unbeeindruckt.
    Seit der gelungenen Rettung war absonderlicherweise der Schmerz in ihm wieder heftiger geworden - wobei Shipley den Verdacht hegte, dass er nie weg gewesen war. Irgendetwas schien ihn kurzzeitig gedämpft, unterdrückt zu haben.
    Der Dunstkreis der Monstrosität, die dort vor der Abtei wütete?
    Es gab so viele Geschichten über Lindwürmer und andere Ungetüme, dass Shipley überzeugt war, es mit etwas Derartigem zu tun zu haben.
    Die ganze Stadt schien unter den Qualen zu ächzen, die ihr das Monstrum mit jedem Mal, da es sich im Bauch der Erde schüttelte, zufügte.
    Weg - bloß weg hier.
    Über das Wohin machte er sich keine Gedanken. Das Rabauld feuerte die nächste Salve
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher