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0931 - Shinigami

0931 - Shinigami

Titel: 0931 - Shinigami
Autoren: Susanne Picard
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»All die Menschen da«, sagte sie leise, »haben keine Ahnung, wie viel Leid ein einzelner ertragen kann.«
    »Von diesen Menschen wissen mehr, was Schmerz und Kummer ist, als man im Allgemeinen annimmt«, sagte Nicole traurig und sanft. »Deshalb sollte man sich immer bemühen, den Schmerz auf dieser Welt nicht zu vergrößern, Alphonsine.«
    Alphonsine lächelte Nicole an. »Da haben Sie recht, Julie. Das sollte man nicht. Aber wissen Sie, was das Schlimmste ist? Nicht, dass den Menschen Kummer und Leid zugefügt wird. Das Schlimmste ist, dass sie ihre Würde bei zu viel Kummer verlieren. Das ist das Schlimmste für mich. Dass ich keine Würde mehr habe.«
    Für einen Moment wusste Nicole nicht, was sie sagen sollte. Sie verstand, was Alphonsine damit meinte. Das Model hatte sich aufgegeben, und sie hasste sich dafür.
    »Es gibt nichts, was sich nicht wieder richten lässt«, meinte sie schließlich und fand ihre Worte selbst unglaublich lahm. Aber nichts zu sagen, wäre in dieser Situation nur noch schlimmer gewesen. »Selbst wenn man Würde verloren hat, es gibt Umstände, die das entschuldigen. Man kann sie wiederfinden.«
    »Für mich ist es zu spät«, sagte Alphonsine einfach. Sie sah auf den kleinen Talisman in ihrer Hand. Dann warf sie ihn Nicole mit einem entspannten Lächeln zu. Für einen Moment sah Nicole die schöne junge Frau, die Alphonsine noch vor sechs Wochen gewesen sein musste, die fröhliche, schöne und charmante Alphonsine Daladier. Sie erwiderte das Lächeln und hob an, Fonsy zu sagen, was sie dachte.
    Doch es war zu spät.
    Mit ihrem charmanten Lächeln auf den Lippen ließ Alphonsine den oberen Fensterrahmen los und ließ sich mit ausgebreiteten Armen einfach hinten über in die Tiefe fallen.
    ***
    Nicole hörte Yasminas Schrei wie in Trance. Blitzschnell versuchte sie, mit dem Dhyarra ein Netz herzustellen, das Alphonsine hielt, sodass sie nicht wie ein Stein unten auf dem Pflaster vor dem Restaurant Ô Beau B'art aufschlug.
    Doch kaum hatte sie das versucht, sagte ihr ein dumpfer, leicht klatschender Aufprall und ein paar Aufschreie, die von der Straße herauf schallten, dass ihre Bemühungen zu spät gekommen waren.
    Für einen Moment fühlte sie nichts, nur Leere.
    Verdammt , dachte sie und spürte, wie Tränen in ihre Augen schossen. Hätte ich das irgendwie vermeiden können?
    Yasmina war jetzt ans Fester gestürzt und starrte hinunter auf die Straße. Dann sank sie vor dem Fenster zusammen und begann haltlos zu weinen.
    Nicole nahm sich zusammen. Sie musste jetzt einen kühlen Kopf bewahren. Sie hastete zu ihrer Tasche hinüber, kramte ihr Handy heraus, und während sie die vier Stockwerke hinunter zur Straße lief, rief sie erst einen Krankenwagen und dann Kommissar Pierre Robin in Lyon an. Vielleicht kannte er bei der Polizei in Paris, wo er lange gearbeitet hatte, noch jemanden, der die Ermittlungen übernehmen konnte, die unweigerlich anstanden, und konnte so helfen, die deBlaussec-Stiftung aus den Recherchen herauszuhalten.
    Als sie unten ankam, hatte sich bereits eine Traube von Passanten um den zerschmetterten Körper Alphonsines gebildet. Nicole hätte nicht gewagt, den verdrehten Körper zu berühren, doch als sie sich durch die Menschen hindurchgezwängt hatte, sah sie, dass Alphonsine blinzelte. Nicole schloss kurz die Augen und versuchte, die Scham, die sie erfüllte, zurückzudrängen. Dann kniete sie neben Alphonsine nieder.
    »Es tut mir leid, Alphonsine. Ich habe das Gefühl, ich hätte Sie im Stich gelassen«, sagte sie leise und strich der Sterbenden eine Haarsträhne aus dem Gesicht.
    Fonsy lächelte schwach. »Das muss es nicht. Ich… ich hätte in kei-keinem Fall weiterleben wollen, ohne meine Würde. Und CHAVACH hätte mich nie mehr freigegeben, bis zu… bis zu meinem Tod. Sie… Sie und… Yasmina haben Ihr Bestes getan, Julie.«
    Nicole nickte. Sie konnte nichts mehr sagen, als sie wieder das schöne Lächeln sah, das sich auf Alphonsines eingefallenem Gesicht breitmachte, als ihre Augen brachen.
    Nicole schloss der jungen Frau die Lider und hielt einen Moment still. »Ich hoffe, dass du an dem Ort, zu dem du jetzt gehst, deine Würde wiederfindest, Alphonsine Daladier«, murmelte sie und stand auf. Die Menschenmenge um sie herum war still geworden.
    Als Nicole schließlich aufblickte, sah sie auf einmal den japanischen Samurai vor sich stehen, den Shinigami. Sie sah ihn zum ersten Mal vollständig und klar vor sich: Er trug die weiten Hosen und die weite
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