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0889 - Eishauch des Todes

0889 - Eishauch des Todes

Titel: 0889 - Eishauch des Todes
Autoren: Christian Montillon
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blieb Zamorra Zeit, das Gesicht der Puppe zu mustern. Es war ihm im ersten Moment seltsam bekannt vorgekommen, doch nun fühlte er sich an niemanden erinnert.
    Zu roh und irgendwie… unfertig waren die Gesichtszüge. Als hätte ein Schnitzer keine Zeit mehr gefunden, sein Werk zu vollenden. Alle Sinnesorgane schienen vorhanden, und zweifellos hatten sie vor kurzem noch funktioniert. Das Wesen hatte sowohl gesehen als auch gesprochen - und dass es außerdem hatte hören können, war immerhin anzunehmen, wenn es auch keinen Beweis dafür gab.
    Andererseits hinkte der Vergleich mit der unvollendeten Holzskulptur, denn nichts erinnerte beim Anblick des Gesichts an Holz, dem wie auch immer Farbe verliehen worden war.
    Als der Parapsychologe die Finger auf die Wangen legte, fühlte er weiche Haut, die sich eindrücken ließ. Sie strahlte sogar eine gewisse Wärme aus… Ein Blick in die toten Augen verriet, dass sie zu detailliert ausgebildet waren, um aus Holz geschnitzt worden zu sein.
    Kein Zweifel - wer diesem Wesen begegnet wäre, hatte es für einen Menschen gehalten. Aber die Wunde in seiner Brust sprach eine andere Sprache.
    Zamorra hatte das Messer längst herausgezogen und zur Seite gelegt. Nun widmete er der Wunde wieder besondere Aufmerksamkeit. Oder der ›Kerbe‹, denn um nichts anderes handelte es sich.
    Es war zum Verrücktwerden - diese Holzpuppe hatte sich selbst eine Kerbe zugefügt und war daran gestorben…
    Zamorra aktivierte die Zeitschau des Amuletts. Vielleicht würde es Aufschluss bringen, wenn er einen Blick in die Vergangenheit warf und den Moment genau beobachtete, in dem das Wesen sich selbst richtete.
    Er konzentrierte sich.
    In der Mitte des Amuletts erschien wie auf einem kleinen Fernsehbildschirm eine exakte Wiedergabe der Umgebung; gleichzeitig sah Zamorra das Bild auf mentalem Weg in seinem Geist vor sich. Es handelte sich nicht um eine statische Momentaufnahme, sondern auch in dieser Darstellung verging die Zeit und brachte Veränderung… doch sie lief rückwärts und ermöglichte so einen Blick in die Vergangenheit.
    In den ersten - und damit letzten - Momenten geschah nichts von Bedeutung. Dann sah der Meister des Übersinnlichen vor sich, wie sich die Kreatur erhob. Wie an Fäden gezogen schob sie sich in die Höhe; er sah den Sturz umgekehrt in der Zeit. Das Messer steckte zu diesem Zeitpunkt noch in der Brust der Puppe.
    Danach, also zeitlich direkt vorher, umschlossen die Hände der Puppe den Griff des Messers und zogen es scheinbar heraus.
    Der Vorgang verlief absolut unspektakulär. Es gab keinen äußerlich erkennbaren Grund, warum die Puppe sich selbst ermordet hatte.
    Im Hintergrund sah Zamorra sich selbst im Wasser des Pools versinken, dann flog er heraus, ein grotesker Anblick. Er stakste voran, das zeitlich verdrehte Rückwärtswanken, lief genau in die Faust des Wesens und…
    »Halt«, murmelte der Parapsychologe zu sich selbst und drehte den Zeitablauf erneut um.
    Wieder wankte er zurück, wieder stürzte er - doch darauf verschwendete er keinen Blick.
    Stattdessen musterte er das Gesicht der Puppe. Ihm war etwas aufgefallen. Unmittelbar bevor sie sich selbst richtete, bewegten sich die Lippen.
    Die Widergabe im Amulett zeigte stets das unmittelbare Umfeld des Amuletts. Zamorra brachte die Silberscheibe auf die entsprechende Höhe und zoomte das Bild heran, bis es nur noch das Gesicht der Puppe zeigte.
    Die Augen lebten, daran gab es keinen Zweifel - dies mochte alles Mögliche sein, aber kein Holz. Ein Blick in diese Augen offenbarte eine Seele, die in diesem Wesen steckte.
    In dieser Vergrößerung war es leicht, von den Lippen abzulesen, was die Kreatur sagte. Es waren überraschende Worte, und doch gaben sie Aufschluss über den Grund des Selbstmords.
    Die Lippen bewegten sich so weich, dass auch hier kein Zweifel aufkam, es nicht mit Holz zu tun zu haben. Zamorra musste dringend eine genaue Untersuchung durchführen. Besaß die Puppe womöglich nur einen hölzernen Kern?
    Von einem solchen Wesen hatte er allerdings noch nie gehört, obwohl ihm schon viel untergekommen war in den Jahren, in denen er die Mächte der Finsternis bekämpfte.
    »Sie wird sterben«, las Zamorra von den Lippen. »Das hätte ich nicht tun dürfen. Nur er muss sterben. Wegen mir. Weil er er ist.« Und danach folgten Worte, die ihm einen Stich versetzten, denn gleichzeitig zog in die Augen der Puppe eine unendliche Melancholie ein: »Ich bin… ein Monster.«
    Das Gesicht der Puppe in der
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