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0886 - Der U-Bahn-Schreck

0886 - Der U-Bahn-Schreck

Titel: 0886 - Der U-Bahn-Schreck
Autoren: Jason Dark
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warten, daß eine bestimmte Person erschien.
    Gesprochen hatte er über dieses Problem mit niemandem, nicht mal mit seiner Frau. Sie hätte ihn ausgelacht, denn wer tot war, der kam nicht mehr zurück. Und einen derartigen Aufprall überlebte niemand. Niemand würde ihm glauben, und Gefühle waren schließlich keine Beweise.
    Polvera tat seinen Dienst wie immer. Äußerlich war ihm nichts anzusehen, aber in seinem Innern brodelte es oft genug. So schaute er sich auf seinen Kontrollgängen ständig um und machte dabei den Eindruck eines Mannes, der verfolgt wurde.
    Den Kollegen war sein Verhalten das eine oder andere Mal aufgefallen.
    Sie hatten ihn auch danach gefragt, aber nur ausweichende Antworten erhalten.
    An einem Dienstag, dem letzten im November, trat er am Mittag wieder seinen Dienst an. In dieser Schicht würde er sich fast ausschießlich in der Station aufhalten. Er spielte den Sicherheitsbeamten. Der große Run auf die Züge begann am Morgen an, wurde dann schwächer und nahm am späten Nachmittag und gegen Abend wieder zu, wenn der Feierabend eingeläutet wurde.
    Aber auch im Laufe des Tages nahm der Betrieb nicht sonderlich ab. Es mußte damit zusammenhängen, daß in vier Wochen das Weihnachtsfest vor der Tür stand. Da fingen die Menschen schon jetzt damit an, in der City of London nach Geschenken zu suchen, die in der Fülle in den Außenbezirken nicht zu finden waren.
    So etwas wußten nicht nur die Bediensteten der Bahn, das lockte auch Taschendiebe gerade zu den Knotenpunkten der U-Bahnen, und Polvera war zusammen mit seinen Kollegen noch wachsamer.
    Da sich das Wetter wieder erwärmt hatte, hockten tagsüber kaum noch Stadtstreicher in den Gängen. Die Männer und Frauen hatte es zurück an die Oberwelt gezogen, und auch das Bellen ihrer Hunde war nicht mehr zu hören. Bei ihnen war es in Mode gekommen, mit einem Hund unterwegs zu sein. Verständlich, denn was sie von anderen Menschen nicht bekamen - Wärme und Liebe - brachten ihnen die Tiere entgegen.
    Gordon Polvera schlenderte an ihren Schlafplätzen vorbei. Decken und große Plastiktüten waren von ihnen zurückgelassen worden, und auch Kippen lagen auf dem Boden, obwohl das Rauchen in den Stationen ausdrücklich verboten war.
    Polvera hob einige leere Schnapsflaschen auf und warf sie in einen Abfalleimer.
    Zwei alte Frauen schauten ihm dabei zu. Sie hockten an der Wand. Eine von ihnen spielte auf einer Mundharmonika, der sie sehnsüchtig klingende Weisen entlockte. Ein Hut stand für Spenden bereit. Vier Münzen schimmerten darin.
    Polvera blieb vor den Frauen stehen.
    Das Spiel der Mundharmonika verstummte. Die dunklen und müden Augen der Frau richteten sich nach oben. Sie zog dabei die Beine an, und die Decke verrutschte etwas.
    »Stört dich das Spiel, Mann?«
    Polvera schüttelte den Kopf. »Nein. Es gefällt mir sogar.«
    Er griff in die Tasche und ließ zwei Münzen in den Hut fallen. Die kaum erkennbaren Lippen im faltenreichen Gesicht der alten Frau verzogen sich zu einem dünnen Lächeln.
    »Danke, du bist ein guter Mensch. Das sage ich nicht, weil du mir Geld gegeben hast, sondern weil ich es spüre.«
    Polvera wußte nicht, wie er reagieren sollte. »So…?«
    »Ja.«
    »Weißt du noch mehr?« Die Alte nickte. »Was denn?«
    Ein dünner Finger kroch aus dem Ärmel der schmutzigen Strickjacke und bewegte sich nach unten. Polvera verstand das Zeichen, er sollte in die Hocke gehen, und ihm wurde auch sehr bald der eigentliche Grund genannt. »Ich möchte in deine Augen sehen, wenn ich es dir sage. Manche lesen aus der Hand, ich aber kann in den Augen eines Menschen erkennen, was ihn bedrückt und was ihm bevorsteht.«
    »Dann bist du eine Wahrsagerin?«
    »So nennt man mich hin und wieder.«
    Gordon Polvera konnte nicht vermeiden, daß ihm ein Schauer über den Rücken kroch. Er wollte etwas dagegen sagen, nur versagte seine Stimme. Im Hals spürte er einen dicken Kloß. Sein nachfolgendes Lächeln sah nicht echt aus.
    »Schau mich an!« forderte ihn die Frau auf.
    »Und dann?«
    »Werde ich dir erklären, was dir in der nahen Zukunft widerfährt. Du kannst mir glauben.«
    »Ja, aber…«
    »Kein Aber.« Ihre Stimme hatte sich verändert. Sie war ungewöhnlich weich geworden, und Gordon Polvera hatte den Eindruck, als wäre die normale Welt in seiner Nähe dabei, allmählich zu zerfließen. Er kam sich nicht vor wie unter Hypnose stehend, aber er war auch nicht weit davon entfernt. Er verlor den Boden der Realität. In den
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