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083 - Das Ende der Unschuld

083 - Das Ende der Unschuld

Titel: 083 - Das Ende der Unschuld
Autoren: Jo Zybell
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spürte nicht den weichen Boden unter den Fußsohlen, fühlte nicht den warmen Wind im Rücken, sah nicht die Blicke der Zeugen rechts und links oberhalb der Mulde - seine Welt schrumpfte auf seinen Gegner zusammen, seine Sinne erfassten das zuckende Muskelspiel von Mir’puts Körper, den Tanz seines Kehlkopfes, das viel zu trotzig nach vorn geschobene Kinn und die in fast acht Nachtstunden angestaute Leidenschaft in seinen schmalen gelben Augen.
    Wer leidenschaftlich hasst, sehe zu, dass er nicht falle, hieß es in den Überlieferungen der Erzväter.
    Intuitiv erfasste Bulba’han seine Chance. »In deinem Haus werde ich sie besteigen«, zischte er, und Mir’puts Gesicht verzerrte sich, als steckte die Klinge des Jüngeren bereits in seinen Eingeweiden. Er schrie seine Wut hinaus, stürmte die letzten Schritte heran, hob das Schwert über den Kopf und schlug zu.
    Nicht schwer, einen solch vorhersehbaren Angriff abzuwehren. Statt mit der eigenen Klinge zu parieren, sprang Bulba’han blitzschnell zur Seite. Mir’puts Klinge fuhr in den Grasboden, die Wucht des eigenen Hiebes riss ihn nach vorn.
    Bulba’hans Schwert drang in die Kniekehle des Älteren.
    Sehnen zerrissen, Blut sprudelte, und der Strauchelnde stürzte über sein Schwert.
    Bulba’han holte erneut aus. Mir’put sah verblüfft zu ihm hinauf - und derselbe verblüffte Ausdruck flackerte noch einen Atemzug lang auf seinem Gesicht, als sein Schädel längst neben dem zuckenden Rumpf im Gras lag.
    Vorbei der Kampf. Vorbei, ehe er richtig begonnen hatte.
    Die beiden Ältesten der Zeugen kamen in die Mulde herab.
    Gemeinsam fassten sie Mir’puts Schwert, gemeinsam überreichten sie es Bulba’han. »Sein Leben in deiner Hand, sein Schwert in deiner Hand, in deiner Hand alles, was er besaß.«
    In jeder Faust eine senkrecht nach oben gerichtete Klinge, lief Bulba’han die Mulde hinauf zu den Sehern am Klippenrand. Noch hatte er nicht ganz begriffen, was eben geschehen war. Im Vorbeigehen trat er den Totenschädel vom Blutmal - so schrieb es der Ritus für Kämpfe auf Bluterde dem Sieger vor.
    Hinter den verhüllten Sehern blieb er stehen. »Sein Leben in meiner Hand, sein Schwert in meiner Hand, in meiner Hand alles, was er besaß.« Jetzt erst überwältigte ihn der Triumph: Seine anthrazitfarbenen Lippen wurden zu einem schmalen Strich, seine knochige Brust blähte sich auf, sein Herz darin tanzte wild. Er dachte an Tata’ya.
    Die Seher zogen die Kapuzen aus ihren grauen Gesichtern, standen auf, umringten ihn und stimmten den Segen an. Über die Hornplatten auf ihren Schädeln hinweg - Bulba’han war größer als sie - blickte er auf den See hinaus.
    Ja, sie waren es: Lesh’iye, Todesrochen. Sie würden wieder vorüberziehen. Die meisten flogen knapp über der Wasseroberfläche, einige hoch über dem Hauptschwarm in der Luft, und drei oder vier pflügten durch die Wogen.
    Lesh’iye, die obersten Diener der Macht im See.
    Bulba’han hatte noch nie so viele auf einmal gesehen. Ihre Zahl übertraf noch die Zahl der Zeugen auf der Bluterde.
    Der Segen fiel kürzer aus als im Ritus vorgeschrieben. Aber das fiel Bulba’han nicht auf. Auch keinem der Zeugen fiel es auf; wahrscheinlich nicht einmal den Sehern selbst. Seite an Seite standen sie an der Klippe und blickten auf den Kratersee hinaus, der Sieger, die Zeugen, die Seher.
    Sie waren riesig, die Lesh’iye, aber das wusste Bulba’han schon seit Kindertagen. So groß waren sie, dass fünfzehn ausgewachsene Schwertkrieger samt ihrer Waffen sich auf ihnen hätten ausstrecken können. Und dabei flach wie Lederdecken. Ja, wie lebendige, keilförmig zugeschnittene Lederdecken, oben schwarz und weiß an der Unterseite. Aus der Kopfpartie hingen Tentakel herunter, und über den vier schwarzen Augen schimmerte jener grünliche Splitter in der Morgensonne, der sie als oberste Diener der Macht im See kennzeichnete.
    Doch all das kannte Bulba’han, wie gesagt, und die anderen Woiin’metcha kannten es auch. Ungewöhnlich aber war die Last, die sie mit sich trugen. Oder nein, nur einer der Lesh’iye trug sie, derjenige, der sich genau in der Mitte des Schwarms hielt. Ein spindelförmiger, grün leuchtender Stein lag auf seinem Rücken.
    Ein Auge der Macht, wie man diese Steine unter den Woiin’metcha nannte. Auch gestern, und am Tag davor hatten die Lesh’iye ein Auge der Macht von Sonnenaufgang nach Sonnenuntergang über den See transportiert.
    »Was soll das werden?«, flüsterte Bulba’han.
    »Ich
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