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083 - Das Ende der Unschuld

083 - Das Ende der Unschuld

Titel: 083 - Das Ende der Unschuld
Autoren: Jo Zybell
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ohne Zeugen vorbehalten. Doch Bulba’han und Mir’put hatten keine Worte der Versöhnung füreinander gefunden. Mir’put wollte Genugtuung und Bulba’han wollte Tata’ya.
    Nach der ersten Stunde kam dann der erste Seher und in seinem Gefolge die erste Abordnung der Zeugen, je sieben für einen Schwertkrieger. Und so ging es weiter: Stunde für Stunde vermehrte sich die Schar der Seher um einen, und die der Zeugen um zwei Mal sieben. Genau wie es das altehrwürdige Gesetz der Woiin’metcha vorschrieb.
    Jetzt waren sie vollzählig, jetzt fehlte nur noch die Sonne.
    Nach dem alten Ritus für Kämpfe auf Bluterde hatten die Kontrahenten von Mitternacht bis Sonnenaufgang an das Leben ihrer Ahnen zu denken, und an ihr eigenes. Alles, was sie erlebt und erlitten hatten, sollten sie bedenken, jede Ruhmestat und jeden Fehler.
    Bulba’han wusste nicht, über was sein Gegner seit Mitternacht meditiert hatte. Er vermutete, dass Mir’put damit beschäftigt war, seinem Hass die Zügel anzulegen. Er selbst hatte nur an zwei Dinge gedacht: Manchmal daran, dass dies sein erster Kampf auf Bluterde war, während Mir’put schon zwei siegreich überlebt hatte. Vor allem aber dachte Bulba’han an Tata’ya.
    Tata’ya war das Mädchen, das Bulba’han liebte. Ihr Vater hatte sie Mir’put versprochen, schon kurz nach ihrer Geburt.
    Aber Tata’ya weigerte sich, in sein Haus zu ziehen. Tata’ya liebte Bulba’han. Mir’put lehnte es ab, sie freizugeben, und so stand Bulba’han vor der Entscheidung: Tata’ya aufgeben oder kämpfen.
    Heller und heller wurde es. Die Sonnenscheibe schob sich Stück für Stück aus dem See. Wind kam auf, warmer Wind. Er wehte den Dunst aus der Mulde und trieb ihn am Waldrand ins Unterholz hinein.
    Die Seher ließen plötzlich die Arme sinken. Bulba’han beobachtete es aus den Augenwinkeln. Auch die meisten der Zeugen wandten die Köpfe und schauten nach den Sehern. Sie durften die Arme nicht sinken lassen! Nicht in der Zeit zwischen dem ersten Morgenlicht und dem endgültigen Aufgang der Sonne. Und nicht bevor sie die Anrufung der Macht im See anstimmten. Und die durften sie erst anstimmen, wenn die Sonne den See nicht mehr berührte.
    Jeder wusste, dass etwas Ungewöhnliches, ja Ungeheuerliches geschah, und keiner ließ sich anmerken, dass er es wusste.
    Bulba’han wandte den Kopf nicht - das verbot der Ritus der Woiin’metcha - aber in der Peripherie seines Blickfelds sah er es dennoch: Dort, wo die Sonnenscheibe jetzt schon mehr als zur Hälfte über dem See stand, verdunkelte ein Schatten ihren unteren Rand. Als würden viele Schiffe sich nähern oder ein riesiger Vogelschwarm. Doch es waren weder Schiffe noch Vögel, und jeder wusste es.
    Zogen sie schon wieder vorbei?
    Bulba’han zwang sich, nicht auf das zu achten, was sich da vom See her näherte. Es fiel ihm nicht schwer. Einmal hatte er gelernt, sich zu allem Möglichen zu zwingen, und zum anderen würde das, was sich da von Sonnenaufgang her näherte, vielleicht bald keine Bedeutung mehr für ihn haben. Denn wenn Mir’put ihn besiegte, hatte er das Recht, ihn zu töten.
    Bulba’han zweifelte nicht daran, wie der Ältere sich entscheiden würde. Er hatte es in seinen Augen gesehen, in seinem Schweiß gerochen, an der Art seiner Schritte abgelesen.
    Falls aber er, der Jüngere, siegte, lagen die Dinge einfacher: Er hatte die Pflicht, den Älteren zu töten. Mir’puts Rang, sein Haus, sein Land, seine Waffen würden ihm zufallen. Und vor allem Tata’ya würde ihm zufallen.
    Die Seher hoben die Arme wieder, die Sonne löste sich vom Horizont, die Seher ließen die Arme sinken und stimmten das Gebet an. Ein Singsang, kurz, laut und klagend, wie von großen hungrigen Vögeln. Bulba’hans Kaumuskeln pulsierten.
    Er fasste seinen Gegner ins Auge. Reglos und breitbeinig stand Mir’put auf der anderen Seite der Mulde.
    Das Gebet verstummte. Die Seher verhüllten ihre Gesichter und senkten die Köpfe. Fast gleichzeitig öffneten Mir’put und Bulba’han ihre Gewänder, fast gleichzeitig fielen die dunkelroten Stoffe zu Boden. Nackt bis auf ein graues, durch den Schritt und um die Hüften gezogenes Tuch schritten sie in die Mulde hinab - grauhäutige Gestalten mit schwarzen Hornplatten über den geriffelten Nasen ihrer eckigen Schädel; sehnig, knochig, mit überproportional großen Füßen und Händen. Die Schwerter trugen sie vor sich, die Griffe mit beiden Fäusten umklammert, die Klinge in den Morgenhimmel gerichtet.
    Bulba’han
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