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0709 - Märchenfluch

0709 - Märchenfluch

Titel: 0709 - Märchenfluch
Autoren: Timothy Stahl
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Mühle aus wieder zur Kirche gefahren, wo Nicole am Fuß der Treppe auf sie wartete. Sie war als Wache zurückgeblieben. Wäre in der Zwischenzeit ein weiterer »Besucher« aus jener anderen Welt aufgetaucht, hätte sie dafür gesorgt, dass er keinen Schaden anrichtete.
    »Keine besonderen Vorkommnisse«, meldete sie zur Begrüßung.
    Zamorra gönnte der Zeichnung auf dem rauen, gelbstichigen Papier einen letzten Blick. »Fast zu schade, um sie ins Wasser zu werfen«, seufzte er.
    »Zumal wir nicht wissen, ob es überhaupt funktioniert«, erinnerte Nicole.
    »Es gibt nur eine Möglichkeit, das herauszufinden«, entgegnete Zamorra und ließ das Blatt fallen.
    Irgendwo im Dunkel der Gewölbe quakte ein Frosch. Das Echo mehrte seine Laute zum Chor.
    »Dass du mir den unterdessen bloß nicht küsst!«, warnte Zamorra mit einem Lächeln.
    Nicole erwiderte es. »Nur, wenn mein eigener Märchenprinz nicht zurückkommt.«
    Das Papier berührte die Wasseroberfläche und lag für einen Moment darauf wie auf Glas. Dann sog es sich zusehends voll und sank, bis es auf halber Höhe zwischen Oberfläche und Boden wie ein fliegender Teppich schwebte, von leichten Strömungen erfasst und bald hierhin, bald dorthin getrieben wurde, aber nicht so weit fort, dass Zamorra, Nicole und Stagg es aus dem Blick verloren hätten.
    So konnten sie beobachten, wie die Linien des Porträts gleichsam aufquollen und schließlich ineinander verliefen. Zugleich löste das Wasser die Tusche zu quirlenden schwarzen Wölkchen, dass man meinte, einen Miniatursturm an einem Miniaturhimmel zu verfolgen. Die Tuscheschlieren wuchsen und verdeckten schließlich fast das ganze Blatt Papier.
    »Spürst du irgendetwas?«, fragte Nicole.
    »Nein«, antwortete Zamorra, »nichts.« Er hob die Schultern. »Es war einen Versuch we…«
    Und dann fiel er um, wie vom Schlag getroffen.
    ***
    Zamorra war vornüber gestürzt und ins Wasser gefallen. Mit Staggs Hilfe zog Nicole den reglosen Körper auf die Treppe und drehte ihn auf den Rücken.
    Ihr Herz schlug bis zum Hals. Sie hatte Angst um den Mann, den sie liebte. All die Jahre, in denen sie nun schon Seite an Seite den größten Gefahren, die in dieser und jeder anderen Welt drohen konnten, die Stirn boten, hatten ihnen eines nicht genommen - die stete Furcht umeinander.
    »Er lebt«, sagte Stagg, mit den Fingern Zamorras Puls prüfend.
    Nicole betrachtete Zamorras Gesicht. Es sah aus, als schliefe er. Sein Atem ging flach, aber regelmäßig.
    Sie wollte den Blick schon abwenden, als sie aus dem Augenwinkel etwas Irritierendes bemerkte. Rasch sah sie wieder auf Zamorra hinab. Der seltsame Eindruck hielt noch eine halbe Sekunde an, dann verging er, und Zamorra sah aus wie zuvor.
    In dieser halben Sekunde jedoch hatte er das nicht. Da hatte er ausgesehen wie - gezeichnet. Als wären die Linien seines Gesichtes Federstriche gewesen und die Schatten feine Schraffuren…
    Staggs Ruf lenkte sie ab. »Ma'am! Sehen Sie doch…!«
    Er hielt einen kompakten Handscheinwerfer in der Hand, dessen Lichtkegel er über die Wasseroberfläche schweifen ließ.
    Nicole erkannte fast augenblicklich, was auch ihm aufgefallen war. Sie sah die hellen Flecken, als die sich die von Stagg vor Jahrzehnten hier unten versteckten Blätter im Wasser abzeichneten.
    Und sie sah, wie diese Flecke verschwanden! Sie lösten sich nicht etwa auf, nein, sie waren von einem Moment zum anderen einfach nicht mehr da. Trüben Lichtern gleich, die ausgeknipst worden waren.
    Nicole lächelte hinaus ins Dunkel. Auch wenn sie ihn nicht sehen konnte, wusste und spürte sie doch mit einem Mal, dass er da draußen war.
    Zamorras waghalsiger Plan hatte also geklappt.
    Für den Anfang jedenfalls…
    ***
    Zamorra atmete ein - und Wasser drang in seine Lungen!
    Reflexhaft trat und griff er um sich, spürte festen Boden unter den Füßen und richtete sich auf. Hustend und würgend spie er das Wasser aus. Dann sah er sich um.
    Nach wie vor befand er sich in jenem Gewölbe unter der Kirche. Doch es hatte sich verändert. Nicht in seiner Größe, sondern in seiner Substanz. Das schien ihm wenigstens die zutreffendste Beschreibung.
    Die Wände um ihn her, die abführenden Gänge und Treppen wirkten nicht mehr real, sondern wie gemalt. Keineswegs aber fotorealistisch. Nein, unübersehbar waren die Feder- und Pinselstriche dieser gewaltigen Kulisse.
    Was aber dennoch nicht hieß, dass sie nicht länger echt gewesen wären.
    Es war verwirrend, wenn man darüber nachdachte, und
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