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0686 - Engel der Finsternis

0686 - Engel der Finsternis

Titel: 0686 - Engel der Finsternis
Autoren: Claudia Kern
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Vorfall nur nicht, um mich nicht zu beunruhigen.
    Wir reden in diesen Tagen nur wenig miteinander. Das mag an der Müdigkeit liegen oder an der Landschaft, die uns mit ihrer Einsamkeit zu erdrücken scheint. Hinter uns liegen die hohen, schneebedeckten Berge, vor uns breitet sich ein Land voller Wälder, Flüsse und Hügel aus, dessen kaltblauer Himmel bis in die Unendlichkeit zu reichen scheint. In meinem ganzen Leben konnte ich noch nie so weit sehen, ohne eine menschliche Behausung zu entdecken.
    Das macht mir Angst.
    Ich fürchte mich vor dieser Einsamkeit mehr als vor den Gerüchten über Indianer und den Legenden über fliegende Ungeheuer. Das sind nur Geschichten, die nachts an den Lagerfeuern erzählt werden. Aber meine Furcht vor diesem weiten Land ist wirklicher, denn wir sind hier völlig auf uns gestellt. Was soll aus meinen Kindern werden, wenn mir etwas passiert? Was ist, wenn einer von uns krank wird und einen Arzt benötigt? Was machen wir, wenn uns die Lebensmittel endgültig ausgehen? Ich kann keine dieser Fragen beantworten.
    Stattdessen verfluche ich zum wohl tausendsten Mal Colonel Hickman, der seinen Trek im Stich gelassen hat, und das Unwetter, das unseren Wagen drei Tage später von den anderen trennte.
    Ich wünschte, die anderen Siedler hätten Reiter ausgeschickt, um nach uns zu suchen.
    Ich wünschte, ich hätte New York niemals verlassen.
    Aber vor allem wünsche ich mir, nicht mehr das Gefühl zu haben, beobachtet zu werden…
    ***
    16. September 1840
    Heute nacht habe ich vom Tod geträumt. Er war so kalt wie der Wind, der von Norden kommt. Seine Umklammerung ließ das Blut in meinen Adern gefrieren. Ich wand mich darin, versuchte, die eisigen Hinge, die sich um meinen Körper gelegt hatten, aufzubiegen, aber die Anstrengung war umsonst. Mit der Aufdringlichkeit eines ungewollten Geliebten hielt er mich in seinen Armen und ließ erst los, als die Sonne im Osten über die Wipfel der Bäume strich.
    Als ich die Augen öffnete, hörte ich Casey husten. Es war nur ein kurzer Laut, aber ich warf sofort die Decke beiseite, um nach ihr zu sehen. Duane war bereits vor mir aufgewacht. Im schwachen Licht, das durch die Stoffplanen in den Wagen drang, sah ich ihn neben den Decken hocken, die den Zwillingen als Bett dienen. Er hielt Casey auf dem Arm und tröstete sie.
    Ich glaube, ich habe erst in diesem Moment verstanden, wie erwachsen Duane in den letzten Wochen geworden ist. Hinter seinem kindlichen Jungengesicht verbirgt sich der reife Verstand eines Mannes. Auf der einen Seite freue ich mich über die Unterstützung, die ich durch ihn bekomme, auf der anderen Seite bedaure ich, dass Duanes Kindheit ein so frühes Ende gefunden hat. Zum Glück begreift er noch nicht, was er verloren hat.
    Casey scheint es trotz des Hustens gut zu gehen. Sie hat kein Fieber. Ihre Schwester Sharon schläft sehr viel, aber auch das ist kein Grund zur Sorge. Wenn man die Umstände bedenkt, geht es uns besser, als man erwarten durfte. Ich fühle sogar ein wenig Optimismus, wenn ich an die nächsten Tage denke. Irgendwann, da bin ich sicher, werden wir auf Menschen stoßen, die uns freundlich aufnehmen werden. Man hört soviel über die Gastfreundschaft im Westen, dass ich mich schon darauf freue, diesen Menschen zu begegnen.
    Ich hoffe nur, dass wir sie bald finden, denn heute haben Duane und ich uns das letzte Stück Pökelfleisch geteilt. Jetzt haben wir nur noch Mehl und das, was wir im Wald entdecken…
    ***
    18. September 1840
    Casey geht es schlechter. Seit der letzten Nacht hat sie hohes Fieber und hustet fast ununterbrochen. Ich habe beschlossen, heute nicht weiterzuziehen, auch wenn wir einen breiten Pfad gefunden haben, der vielversprechend aussieht. Duane will ihm zwar unbedingt folgen, aber es ist wichtiger, dass Casey die Gelegenheit bekommt, ein wenig auszuruhen.
    Die Tage sind immer noch warm genug, um sich draußen aufzuhalten, aber die Nächte sind eisig. Wir schlafen alle so gut es geht im Inneren des Planwagens. Es ist sehr beengt, gibt uns aber zumindest ein wenig Schutz.
    In den letzten Tagen habe ich graue Wolken gesehen, die hoch über uns hinwegzogen. Ich befürchte, dass sie den Schnee in die Rocky Mountains bringen.
    Wenn der Schnee kommt, werden wir sterben…
    Ich versuche, nicht zu oft an den Tod zu denken. Für die Kinder muss ich stark bleiben. Ebenso verdränge ich das Gefühl, beobachtet zu werden, obwohl es allgegenwärtig ist. Manchmal ist es so stark, dass ich die Blicke im
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