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0683 - Monster aus dem Schlaf

0683 - Monster aus dem Schlaf

Titel: 0683 - Monster aus dem Schlaf
Autoren: Claudia Kern
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Sie sich für den Rest was Warmes zu trinken.«
    »Danke, Sir.«
    Mary Jane hängte sich an Henrys Arm.
    »Kann ich es sehen?«, fragte sie aufgeregt. Den ganzen Tag über waren sie gemeinsam durch die Geschäftsstraßen Londons gezogen, hatten eingekauft und sogar ein Museum besucht. In ihrem blauen Spitzenkleid und dem teuren Pelz erinnerte nichts an Mary Jane an die Prostituierte, die Henry vor knapp einem Monat in einer Bar angesprochen hatte. Die Männer, denen sie begegneten, zogen höflich den Hut vor ihr und die Geschäftsleute sprachen sie mit ›Madam‹ oder ›Mylady‹ an.
    Henry konnte förmlich sehen, wie Mary Jane unter der für sie ungewohnten Behandlung aufblühte. Lächelnd reichte er ihr die Zeichnung.
    »Sie wird deiner Schönheit nicht gerecht, meine Liebe«, sagte er elegant.
    Seine Begleiterin errötete. Sie betrachtete das Bild einen Augenblick und wurde plötzlich ernst.
    »Manchmal«, sagte sie, »glaube ich wirklich, dass du mich liebst und nicht nur mit mir durch die Straßen gehst, weil du hoffst, dass Jack mich sieht.«
    Er senkte den Kopf.
    Ihre Worte hatten ihn stärker getroffen, als er zugeben wollte.
    Natürlich hatte er sie nur angesprochen, weil er einen Lockvogel für den Ripper suchte. Er hatte Mary Jane so wie alle Prostituierten verachtet. Ihr Tod hätte ihm weniger bedeutet als der seines Lieblingshundes. Hätte Jack sie nur einen Tag nach ihrer Begegnung ermordet, er wäre einfach in den nächsten Pub gegangen und hätte sich einen neuen Köder gesucht.
    Aber dann wurde alles anders. Mary Jane weckte etwas in ihm, von dem er vorher noch nicht einmal geahnt hatte, dass es da war. Er fühlte sich jung und voller Energie. Jeden Abend freute er sich darauf, sie wiederzusehen und wurde von wilder Eifersucht gequält, wenn sie mit einem Freier in ihrem kleinen Zimmer verschwand. Nach einer Woche hielt er es nicht mehr aus und schenkte ihr soviel Geld, dass sie zumindest in den Nächten, wo er verborgen in der Nähe stand und auf den Ripper wartete, nicht mehr arbeiten musste.
    Henry hatte sich in Mary Jane verliebt.
    »Du weißt, was die Wahrheit ist«, entgegnete er. »Wenn ich nicht geschworen hätte, diese Aufgabe zu erfüllen, wäre ich schon längst mit dir aus der Stadt verschwunden. Und wenn ich jemanden wüsste, der besser geeignet ist…«
    Sie legte ihm ihren Zeigefinger auf die Lippen.
    »Ich verstehe dich. Nur an manchen Tagen befürchte ich, dass du nie wieder nach Whitechapel kommen wirst, wenn der Ripper tot ist.«
    Die ersten Schneeflocken des Jahres fielen langsam auf ihren Hut. Es wurde dunkel, und Henry wusste, dass sie zurückkehren mussten.
    Er pfiff nach einer Kutsche und half Mary Jane beim Einsteigen.
    »Ich werde immer in Whitechapel sein«, sagte er, »egal, ob der Ripper lebt oder stirbt.«
    Sie lächelte gekünstelt, während sie stumm ihr Kleid in Ordnung brachte. Offenbar war sie es gewohnt, falsche Versprechen von Männern zu bekommen.
    Henry setzte sich neben sie und sah schweigend aus dem Fenster. Nach einer Weile wurden die Häuser kleiner, die Straßen schmaler und die Kleidung der Leute ärmlicher. Dann zügelte der Kutscher die Pferde.
    Der Adlige sprang aus der Kutsche und gab dem Fahrer ein wenig Trinkgeld. Am Blick des Mannes sah er, dass er sich nicht erklären konnte, was ein so vornehmes Paar in dieser Gegend wollte.
    Henry folgte Mary Jane bis zur Tür, so wie er es jeden Abend tat.
    »Ich ziehe mich nur rasch um«, sagte sie und verschwand im Haus.
    Henry sah sich um und überzeugte sich davon, dass niemand in der Nähe war, der ihn beobachtete. Erst dann verschwand er in einer kleinen Mauernische, band sich den Schal, der seine helle Haut verdeckte, um das Gesicht und wartete.
    Mary Jane wusste, wo er stand, denn an der gleichen Stelle wartete er jede Nacht auf den Ripper.
    Mit einer schnellen Geste seiner Hände verbannte er die Kälte aus seinem Körper. Das Licht der Straßenlaterne, unter die Mary Jane sich schon bald stellen würde, schien auf das rostige Straßenschild: Dorset Street.
    ***
    Zamorra betrachtete nachdenklich die Straßenkarte, die Nicole auf dem Tisch des kleinen Restaurants ausgebreitet hatte.
    Die fünf Punkte, an denen der Ripper seine Opfer getötet hatte, waren markiert. Nicole hatte die Punkte mit Strichen verbunden, um herauszufinden, was im Zentrum lag. Wenn die Karte maßstabsgetreu war - und das hoffte Zamorra -, dann gab es darauf nur eine Antwort: »Daling Way. Das Hochhaus liegt in der Mitte eines
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