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058 - Sub Sisco

058 - Sub Sisco

Titel: 058 - Sub Sisco
Autoren: Bernd Frenz
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in sich bergen.
    Clay blickte über die aufgewühlten Fluten, die sie mit ihrem Boot durchschnitten. Gischtend brachen sich die Wellen an der Bordwand, bevor sie hinter dem Heck langsam wieder zur Ruhe kamen. Bereits in geringer Tiefe wurde die raue See fürs menschliche Auge undurchdringlich. Nur einige vage Schatten durchbrachen hin und wieder das Grau. Ve rmutlich Fischschwärme, die bisher nie ein Netz zu fürchten brauchten. Vielleicht aber auch etwas Größeres, Bedrohliches, das nur auf eine Chance zum Angriff wartete.
    Sie befanden sich längst über dem Gebiet, auf dem sich einst Sisco erstreckt hatte. Damals, bevor Kristofluu kam und den Himmel für so lange Zeit verdunkelte. War es der Gedanke, dass sie sich gerade über die nassen Gräber ihrer Ahnen bewegten, der Clay frösteln ließ? Er wusste es nicht.
    Der Junge wusste nur, dass sie langsam den Kurs ändern mussten, oder die Türme würden steuerbord an ihnen vorüber ziehen!
    Nervös sah er sich zu den anderen Booten um. Keiner der Rudergänger machte Anstalten, die alten Gemäuer anzusteuern. Jetzt, da sie ihr Ziel erreicht hatten, wagte niemand den ersten Schritt zu machen. Clay spürte ebenfalls Angst vor der eigenen Courage, doch die Sorge um Piar ließ ihn über sich hinaus wachsen. Erwartungsvoll sah er zu ihrem Vater hinüber, dem Ältesten an Bord.
    Kendro war ein sanftmütiger Mann mit lichtem schwarzen Haar, dessen Bauch sich, trotz der harten Arbeit auf See, deutlich unter dem weiten Leinenhemd abzeichnete. Zeit seines Lebens hatte sich der Mittvierziger nicht um Verantwortung gedrängt. Clays scharfer Blick, der ihm eine rasche Entscheidung abverlangte, bereitete ihm sichtliches Unbehagen. Schließlich wusste niemand von ihnen, welche Gefahren bei den Türmen lauern mochten. Wenn Kendro den Befehl gab, dorthin zu fahren, beschwor er vielleicht genau das Unglück auf sie herab, dem sie eigentlich entfliehen wollten!
    Auf der Unterlippe kauend, wartete er darauf, dass ein anderes Schiff die Führung übernahm, aber seine diesbezüglichen Hoffnungen wurden enttäuscht. Überall rafften sie ihre Segel und warfen die Treibanker.
    »Was ist?«, fragte Clay in weitaus schärferem Ton, als ihm bewusst war. »Wollen wir auch Wurzeln schlagen? Wir haben keine Zeit zu verlieren. Die Dämmerung bricht bald herein.«
    Die' Sonne verwandelte sich tatsächlich bereits in einen roten Glutball, der das Meer blutig erscheinen ließ. Dieser Anblick war nicht gerade dazu angetan, Kendros Wagemut zu stärken, aber sein drängender Rudergänger ließ ihm keine andere Wahl. Er musste eine Entscheidung treffen.
    »Also gut«, erklärte der Bootsälteste mit fester Stimme, »such dir einen der Türme aus.«
    Erleichtert zog Clay die Pinne herum. Das Boot scherte aus dem Verband und segelte direkt auf den höchsten der zehn Türme zu.
    Keine der anderen Besatzungen machte auch nur Anstalten, dem Beispiel zu folgen. Sie wollten lieber abwarten, ob die Vorhut überhaupt lebend das Ziel erreichte. Falls wirklich ein Ungeheuer aus den Fluten aufstieg oder die Zinnen von den wackligen Bauten herab krachten, waren sie weit genug entfernt, um noch die Flucht ergreifen zu können.
    Mit klopfendem Herzen steuerte Clay das Boot näher an das anvisierte Gebäude heran, das schon bald sein gesamtes Gesichtsfeld einnahm. Der Junge schauderte. Selbst in seinen kühnsten Träumen hätte er nicht damit gerechnet, dass die Türme von Sisco so gewaltig waren. Allein die vor ihm aus dem Wasser ragenden Stockwerke konnten bequem Hunderte von Menschen in sich aufnehmen. Wie viele mochten erst darin gewohnt haben, bevor es versunken war?
    Auch aus der Nähe verlor das leere Gebäude nichts von seiner unheimlichen Ausstrahlung. Eine schleimige grüne Algenschicht überzog die tieferen Stockwerke, die bei stärkerem Wellengang regelmäßig überspült wurden. Knapp über der Meereslinie klebten unzählige Muscheln an der steinernen Front, deren Zahl unter Wasser sprunghaft anstieg.
    Die verkursteten Schalen saßen dort so dicht beieinander, dass es beinahe so wirkte, als wäre das Gebäude wie ein natürliches Riff aus der Tiefe empor gewachsen. Die bizarren Ablagerungen schienen den versunkenen Teil völlig zu umschließen. Vielleicht war das der Grund, warum der Turm noch immer den Gezeiten trotzte.
    Clay nahm das Boot geschickt aus dem Wind und lenkte es parallel zur Gebäudefront, die sich über fünfzig Doppelschritte weit erstreckte. Keine Ruine in Mont Reyy besaß solche Ausmaße!
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