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051 - Die gelbe Schlange

051 - Die gelbe Schlange

Titel: 051 - Die gelbe Schlange
Autoren: Edgar Wallace
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geschmeidigen Anmut eines Menschen, dem Bewegung elementares Bedürfnis ist. Joan war zehn Jahre lang vernachlässigt, unterdrückt und beiseite geschoben worden, aber sie hatte dabei weder ihren Lebensmut noch ihr Selbstvertrauen eingebüßt.
    Diese Joan stand nun mit einem halben Lächeln in ihren grauen Augen vor ihnen, sah von einem zum ändern und merkte, daß irgend etwas Außergewöhnliches vorgefallen war. Die Klarheit ihres Teints und der Liebreiz ihrer Züge konnten von der etwas herausfordernden Schönheit ihrer Kusinen nicht in den Schatten gestellt werden. Sie glich einem Bild, dessen Feinheiten keiner Glanzlichter bedurften.
    »Guten Abend, Mr. Narth.« Sie redete ihn immer formell an, »Ich habe die Vierteljahresabrechnung fertiggestellt - sie ist sehr unerfreulich!«
    Zu jeder anderen Zeit hätte Stephen diese Nachricht schwer getroffen, aber die Aussicht, ein größeres Vermögen zu erben, hatte ihn völlig gleichgültig gegen die Frage gemacht, ob er hundert Pfund mehr oder weniger besaß.
    »Nimm doch Platz, Joan«, forderte er sie auf. Verwundert setzte sie sich.
    »Bitte, lies diesen Brief.« Er reichte ihr das Schreiben. Schweigend überflog sie es, dann lächelte sie. »Das ist wirklich eine wundervolle Nachricht! Ich freue mich sehr für Sie.« Dann blickte sie ein wenig spöttisch von einer Kusine zur anderen. »Wer wird denn die glückliche Braut sein?« Ihre überlegene Heiterkeit war in Mabels Augen eine Beleidigung. Die Selbstverständlichkeit, mit der Joan annahm, daß eine von ihnen sich in eine obskure Chinesenstadt vergraben würde, trieb ihr die Zornesröte in die Wangen.
    »Sei nicht töricht, Joan«, sagte sie scharf. »Diese Frage muß noch genau überlegt werden.«
    Stephen Narth hatte das Gefühl, eingreifen zu müssen. »Clifford Lynne ist ein prachtvoller Mensch, einer der besten, die es gibt«, pries er ihn begeistert, obwohl er Cliffords Charakter, Aussehen oder Verhältnisse nicht besser kannte als die irgendeines beliebigen Menschen, dem er heute nachmittag mit seinem Auto begegnet war. »Dies ist ein ganz großes Glück für uns. Übrigens ist dieser Brief hier«, er wandte sich direkt an Joan, »nicht der einzige, den ich von unserem Freund Joe erhalten habe. In einem anderen Schreiben hat er sich noch viel deutlicher geäußert.«
    Joan blickte ihn an, als ob sie erwarte, daß er ihr diesen mysteriösen Brief zeigen würde. Aber er tat nichts dergleichen aus dem einfachen Grund, weil dieser Brief nicht existierte.
    »Um es kurz zu sagen, liebe Joan: Joe Bray wünscht, daß du diesen Mann heiratest.«
    Langsam stand das Mädchen auf, ihre feingezeichneten Brauen schoben sich verblüfft in die Höhe.
    »Er will, daß ich ihn heirate?« wiederholte sie. »Aber ich kenne den Mann doch gar nicht.«
    »Wir ebensowenig«, erklärte Letty ruhig. »Darum geht es ja auch gar nicht, denn vor der Ehe kann man einen Mann ohnehin nicht wirklich kennenlernen. Seine wahre Natur kommt doch erst nach der Heirat zum Vorschein.«
    Mr. Narth bedeutete Letty, zu schweigen.
    »Joan«, begann er ernst, »ich bin immer gut zu dir gewesen. Ich habe dir ein Heim gegeben und habe noch mehr für dich getan, wie du wohl weißt.«
    Er sah seine Töchter an und gab ihnen ein Zeichen, sich zu entfernen. Als die Tür sich hinter ihnen geschlossen hatte, fuhr er fort:
    »Joan, ich muß einmal ganz offen mit dir sprechen.« Es war nicht das erstemal, daß er eine Unterredung so einleitete, und sie wußte, was jetzt kommen würde. Sie hatte einen Bruder gehabt, einen leichtsinnigen Jungen, der bei der Firma Narth angestellt und eines schlimmen Tages mit einigen hundert Pfund durchgebrannt war -, aber er hatte diese Tat mit dem Leben bezahlt. Auf der rasenden Fahrt zu einem Hafen war er mit dem Auto verunglückt - man hatte ihn auf einer Landstraße in Kent tot unter den Trümmern seines Wagens gefunden. Dann war da noch die alte kranke Mutter Joans, die in ihren letzten Lebensjahren von der Mildtätigkeit Stephen Narth's unterhalten worden war. (»Wir können sie unmöglich ins Armenhaus gehen lassen«, hatte Mabel damals gesagt. »Wenn das in die Zeitungen kommt, gibt es einen schauderhaften Skandal!« Mabel war eben Mabel, selbst im zarten Alter von sechzehn Jahren.)
    »Ich möchte dich nicht an alles erinnern, was ich für deine Familie getan habe!« Er sah sie bedeutungsvoll an, und dann zählte er alles auf, was sie schon öfter von ihm gehört hatte. »Ich habe dich in mein Haus aufgenommen und habe
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