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051 - Die gelbe Schlange

051 - Die gelbe Schlange

Titel: 051 - Die gelbe Schlange
Autoren: Edgar Wallace
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    Joe Brays Haus in Siangtan war ein außergewöhnliches Bauwerk. Aber auch Joe Bray selbst war eine außergewöhnliche Persönlichkeit, sogar für China, wohin doch seit den Tagen Marco Polos schon so viele bedeutende Männer gekommen sind.
    Entworfen hatte dieses steinerne Haus Pinto Huellö, ein trunksüchtiger portugiesischer Architekt, der sein Vaterland unter recht schimpflichen Umständen hatte verlassen müssen und schließlich über Kanton und Wuchau in diese riesige, unordentliche Stadt verschlagen worden war.
    Nach allgemeiner Ansicht hatte Pinto die Baupläne nach einer wilden Nacht in einer Öpiumhöhle entworfen, später packte ihn jedoch die Reue, und er änderte die Zeichnungen wieder ab. Zu diesem Zeitpunkt war das Haus jedoch schon halb fertiggestellt - und so verkörperte der Teil von ›Northward‹, der eine verblüffende Ähnlichkeit mit einer berühmten Porzellanpagode hatte, Pintos berauschte Träume, während die andere Hälfte des Gebäudes die steingewordene Ernüchterung des unberechenbaren Portugiesen darzustellen schien.
    Joe Bray war groß und dick, ein wahrer Berg von einem Mann, und er liebte China, Gin und seine langen Tagträume. Joe träumte von wunderbaren Dingen, die meist jenseits jeder Realität lagen; einer seiner Lieblingsträume war, daß er von diesem vergessenen Weltwinkel aus mit einem Schlag das Schicksal der gesamten Menschheit grundlegend verändern könnte.
    Joe träumte, daß er wie Harun al Raschid verkleidet unter den Notleidenden wandeln und Gold auf jene regnen lassen würde, die dessen wert waren. Nur konnte er niemals die richtige Sorte von Bedürftigen finden.
    China ist ein Land, das zu Träumen verleitet. Von seinem Lieblingsplatz aus konnte Joe Bray die wogenden Wasser des Siang-Kiang erblicken, der Schein der untergehenden Sonne malte purpurne Streifen auf die Wellen, die vor der weitläufigen Silhouette Siangtans auftauchten und wieder verschwanden. Die rhombenförmigen Segel der Sampane, die langsam dem großen See zuglitten, glänzten bronzefarben und golden im Abendrot, und das summende Treiben dieses Bienenstocks von einer Stadt war aus solcher Entfernung weder zu sehen noch zu hören - auch nicht zu riechen.
    Nicht, daß der alte Joe Bray etwas gegen diese Gerüche einzuwenden gehabt hätte, sie gehörten nun einmal zu China. Joe kannte dieses riesige Land von der Mandschurei bis nach Kwangsi, von Shantung bis zum Tal von Liao-Li.
    Für Joe Bray war China der bedeutendste Teil der Welt, und die Greuel und den Gestank dieses Landes empfand er als ganz normal. Joe dachte wie ein Chinese, er fühlte sich fast schon als Chinese. Er hatte weite Strecken dieses Riesenreichs zu Fuß durchquert, und er hatte seinen Weg aus mehr verbotenen Orten freigekämpft als irgendein anderer Mann zu jener Zeit. Im Namen jenes verrufenen Fu Chi-Ling, der damals Gouverneur von Sukiang war, hatte Joe Bray halbnackt auf seine Hinrichtung gewartet - aber er war auch mit großen Ehren in der Sänfte eines Mandarins zum Palast der Tochter des Himmels getragen worden.
    Joe Bray, der Opportunist. Von Geburt war er Engländer; als aber Amerika in China mehr in Gunst kam, wechselte Joe bedenkenlos seine Nationalität und wurde Amerikaner. Er war steinreich; sein Haus auf dem Hügel an der Flußbiegung war ein Palast. Joe besaß Kohlenbergwerke und Kupferminen und war an Unternehmen beteiligt, die sich bis zu den Goldfeldern am Amur erstreckten. In den letzten Jahren hatte er ein enormes Vermögen angehäuft.
    Joe hatte es sich in einem Liegestuhl bequem gemacht und gab sich seiner Lieblingsbeschäftigung hin, aber selten kamen seine Träume einer Verwirklichung so nahe wie die Vision, die ihn gerade erfüllte. Neben ihm saß Fing Su, der für einen Chinesen ungewöhnlich groß war und auch nach europäischen Maßstäben blendend aussah. Außer den schräggeschnittenen schwarzen Augen war nichts typisch Chinesisches an seinem Gesicht. Fing Su hatte den empfindsamen Mund und die gerade, feine Nase seiner französischen Mutter; von seinem Vater, dem gerissenen Kaufmann und Abenteurer Shan Hu, stammte das pechschwarze Haar und die eigentümlich blasse Hautfarbe. Fing Su trug einen dick wattierten Seidenrock und formlose Beinkleider, die in die Filzschuhe gesteckt waren. Seine Hände verbarg er mit chinesischer Höflichkeit in den weiten Rockärmeln.
    Joe Bray seufzte und nippte an seinem Glas.
    »Es mußte ja alles so kommen, Fing Su. Ein Reich, das keinen Kopf und keine Füße hat,
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