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0431 - Grauen der Lüfte

0431 - Grauen der Lüfte

Titel: 0431 - Grauen der Lüfte
Autoren: Werner Kurt Giesa
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an.
    Die Verletzung an der Schulter, die ihr der Unheimliche mit seinen Krallen zugefügt hatte, brannte. Hin und wieder schaute Taniquel nach. Die Wunde blutete schon lange nicht mehr, aber sie tat weh. Und von ihr breitete sich langsam, aber sicher eine eigenartige Kälte aus.
    Waren die Krallen der Bestie vergiftet?
    Einmal zerrte Taniquel sich die zerrissene Bluse von der Schulter und betrachtete die Verletzung im Sternenlicht, das an dieser Stelle durch eine Lücke im Laubdach des Waldes drang. Sie fürchtete, dort, wo die Kälte schmerzhaft brannte, so verschrumpelt und vertrocknet auszusehen wie Watah. Aber sie konnte nichts dergleichen entdecken.
    Sie richtete die Bluse wieder und ging weiter. Nach etwa einer Stunde erreichte sie schließlich atemlos und schweißgebadet den Tempel der Ankunft. Ein weißes Gebäude am Berghang, mit vielen Erkern und Türmchen und einem Vorwerk, an dessen Tor immer Fackeln brannten, am Tage wie bei der Nacht.
    Taniquel lehnte sich an das Tor.
    Tief atmete sie durch und versuchte, zur Ruhe zu kommen. Die Kälte, die von der Verletzung ausging, hatte mittlerweile ihren ganzen rechten Arm ausgefüllt und fast ihren gesamten Oberkörper. Der Schmerz war verdrängt; sie nahm ihn nicht mehr wahr. Aber was sie schmerzhaft fühlte, war der Schlag ihres Herzens, des letzten warmen Organs in der Kälte.
    Dabei fror sie nicht einmal wirklich. Diese Kälte war etwas… anderes.
    Taniquel hob den kalten rechten Arm und schlug mehrmals mit dem Schwertknauf gegen die hölzerne, massive Tür. Es dauerte eine Weile, dann vernahm sie schlufende Schritte, und sie spürte, daß jemand hinter der Tür auftauchte, dessen Körper von Wärme durchflossen wurde.
    Ein kleines Guckloch wurde geöffnet, und dahinter tauchte ein Gesicht auf, Taniquel wurde von den blakenden Fackeln vor dem Tor angeleuchtet und war für den Torwärter deutlich zu sehen.
    »Wer begehrt Einlaß, und aus welchem Grund zu dieser unheiligen nächtlichen Stunde?« knurrte der Torwächter.
    »Taniquel«, sagte sie. »Ich habe eine wichtige Nachricht. Gefahr droht unserem Land. Sehr große Gefahr.«
    »Was für eine Gefahr?«
    »Sie ist groß genug, um der Priesterin der Ankunft davon zu erzählen! Sie ist weise und wird am besten wissen, was zu tun ist. Kreaturen, die nie ein Mensch sah, treiben ihr Unwesen in dieser Nacht. Sie töteten Watah, den Waldjäger!«
    »Watah?« Das Guckloch wurde geschlossen, dann schob jemand einen massiven Riegel beiseite. Die Tür wurde nach innen aufgezogen. Taniquel sah einen untersetzten Mönch in einer dunklen Kutte. Sie konnte den Schlag seines Herzens hören, und sie glaubte das Rauschen seines Blutes in seinen Adern zu vernehmen. Warmes Blut… Wärme, die die sich immer mehr ausbreitende Kälte in ihr vielleicht mildern konnte. Sie fühlte, wie ihr Kopf zu vereisen begann. Etwas in ihren Augen veränderte sich, sie sah den Torwächter-Mönch plötzlich auf eine eigentümlich andere Weise als zuvor, ohne sich den Unterschied erklären zu können.
    »Wer könnte Watah töten? Er ist schnell und wachsam, er kennt jeden Zoll des Waldes! Wer Watah tötet, ob Mensch oder Tier, muß unsichtbar sein und über übermenschliche Kräfte verfügen, und er muß so schnell sein wie ein Gedanke! Taniquel bist du? Dann bist du jene, die gegen den Willen ihrer Eltern zu Watahs Gefährten wurde?«
    »Du weißt viel, Mönch der Ankunft«, sagte sie leise.
    Er lächelte. »Folge mir. Ich werde versuchen, die Priesterin zu wecken. Manchmal, wenn das Tagewerk sehr schwer war, ist das fast unmöglich. Nimm derweil im Aufenthaltsraum Platz.« Er schloß hinter Taniquel wieder das Tor, verriegelte es und ging dann voran.
    Taniquel war nicht zum erstenmal im Tempel. Hier fanden häufig Zeremonien und Rituale statt. Es war keine Pflicht, an ihnen teilzunehmen, aber oft schon hatten die Mönche und die Priesterin mit ihren Adepten kleine oder größere Wunder getan. Sie halfen jedem, der in Not geriet, und linderten den Schmerz. Und sie verlangten nicht einmal, daß man ihnen einen Teil der Ernte gab; sie bauten selbst an und züchteten Schlachttiere; sie benötigten keine Unterstützung. Dafür gaben sie selbst, wann immer sie Armut sahen.
    Und viele Menschen aus der Umgebung eilten zu den Ritualen, um Trost zu finden und erhabene Schönheit zu sehen.
    Und es ging die Sage, daß dies der Tempel sei, in dem eines Tages die Götter wieder erscheinen würden. Dann, wenn große Not entstand, die selbst die Priesterin, die
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