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04 - Spuren der Vergangenheit

04 - Spuren der Vergangenheit

Titel: 04 - Spuren der Vergangenheit
Autoren: Manfred Weinland
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»Und du musst! Steh auf!«
    Roo war selbst erstaunt, dass er tatsächlich hochkam. Auf allen vieren kroch er durch die schmale Tür nach draußen, wo Hände und Füße bis zu den Knöcheln im aufgeweichten Boden versanken. Der Unheimliche blieb ganz nah bei ihm, ohne selbst einzusinken. Unablässig trieb er Roo an und peitschte ihn mit Worten voran.
    »Zeig es mir! Führ mich hin!«
    Trotz seiner Schwäche folgte der Dorfbewohner den Befehlen. Der Unheimliche hatte ihm mit der Xibalbá gedroht, der Unterwelt. Dort aber wollte er nicht landen – unter keinen Umständen. Er mobilisierte alles, was an Kräften noch in ihm steckte.
    Indes kam er an Hütten vorbei, durch deren offene Türen er vertraute Gesichter entdecken konnte, auf denen sich Schwärme von Fliegen niedergelassen hatten.
    Er keuchte qualvoll. Ich bin schuld. Ich habe sie auf dem Gewissen. Ich hätte den Stein niemals herbringen dürfen …
    Aber genau das hatte er getan. Er war immer der Mutigste von allen im Dorf gewesen, und so hatte er es auch als Einziger gewagt, dem Feuer entgegenzugehen, das dem kurzen Beben gefolgt war. Er hatte das Dorf in Richtung der Rauchwolke verlassen und war zu einem Krater gelangt, dessen qualmende Ränder er hinabkletterte und …
    … und schließlich etwas fand, das nur die Götter geschaffen haben konnten: Dunkelheit, die dem hellen Tage trotzte!
    Seine Hände waren hineingetaucht in die Schwärze und hatten etwas Festes in deren Zentrum ertastet, das sich ohne Mühe hatte aufheben und mitnehmen lassen.
    Ein Götterstein, hatte er gedacht und ihn zum Dorf getragen, um ihn den anderen zu zeigen. Alle hatten es geschaut und waren entsetzt darüber gewesen.
    Und als am nächsten Tag die Seuche ausbrach, gaben sie ihm und dem Götterstein die Schuld.
    Dabei gehörte der Tote einem Jagdtrupp an, der zwei Tage zuvor heimgekehrt war. Er war von einem Affen gebissen worden und die Wunde hatte sich entzündet. Obwohl man ihm Medizin verabreichte und für ihn betete, ging es ihm immer schlechter.
    Gestorben war er aber erst, nachdem Roo das Dunkel-das-der-Sonne-trotzt angeschleppt hatte. Grund genug, um dem Götterstein die Schuld zu geben. Roo hatte sich bereit erklärt, ihn dorthin zurückzubringen, wohin die Götter ihn geschleudert hatten.
    Die Dorfbewohner hatten aufgeatmet. Aber das Sterben war weitergegangen. Als Nächstes starb die Mutter des Jägers, die ihn gepflegt hatte, dann seine Schwester.
    Inzwischen war auch Roo nur noch ein Schatten seiner selbst – den ein zorniger Geist durch Dorf und Wildnis bis hin zu der Stelle trieb, wo das Dunkel-das-der-Sonne-trotzt lag.
    »Hier?«, vergewisserte sich der bleiche Mann, als Roo schließlich mit erlöschender Kraft am Rand des Einschlagskraters anlangte, der sich mit Wasser gefüllt hatte. »Zeig ihn mir! Ich will ihn sehen! Hol ihn mir herauf!«
    Roo wusste, dass er dazu nicht in der Lage sein würde. Zu tief, dachte er. Viel zu tief … Trotzdem rollte er sich über den Rand und tauchte in das kalte Wasser ein. Und ertrank darin.
    Er bekam nicht mehr mit, wie der Unheimliche neben ihm selbst hinabtauchte … und wenig später völlig trocken wieder an die Oberfläche zurückkehrte. Obwohl er den Stein nicht bei sich trug, wirkte der Mann in Weiß sehr zufrieden. »Hier ruht mehr, als mein Herr zu hoffen wagte«, sagte er zu sich selbst.
    Dann verschwand er.
    1.
    Gegenwart
    Madrid
    Kein Gast hatte je so viel gesoffen wie der schmerbäuchige Hausherr selbst. Die Stammgäste des Último Refugio – eine Mischung aus billiger Absteige und baufälliger Bodega – tolerierten jedoch der günstigen Preise wegen die vom Alkohol diktierten Launen, die Álvaro Suárez gleichermaßen an der Kundschaft wie an der eigenen Familie ausließ. Wer das heruntergekommene Gebäude nahe des Madrider Armenviertels Cañada Real Galiana betrat, wusste in aller Regel, worauf er sich einließ. Oder er trollte sich ganz schnell wieder.
    »Papá! Es ist gerade erst Mittag und du riechst schon wie ein offenes Weinfass!«, zischte Maria Luisa Suárez aufgebracht ihrem Vater zu, der hinter dem Tresen hing, die Gläser einiger Kunden füllte und auch sein eigenes nie leer werden ließ. Der Ausschank erfolgte im Erdgeschoss des Último Refugio, täglich während der Mittagsstunden. Abends blieb die Bodega zu Maria Luisas Erleichterung aber geschlossen – weil ihr Vater sich dann ohnehin kaum noch auf den Beinen halten konnte.
    »Cierra el pico! Wie redest du mit deinem Vater? Du ungezogenes
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