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0287 - Herrscher über tausend Geister

0287 - Herrscher über tausend Geister

Titel: 0287 - Herrscher über tausend Geister
Autoren: Werner Kurt Giesa
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links an einer breiten Straße, statt rund um den Dorfplatz!
    Wang Lee ballte die Fäuste. »Wo bin ich?« keuchte er.
    Das hier war nicht das Zeltlager des großen Temudschin, der viel später als Dschinghis-Khan in die Geschichte eingehen sollte. Doch davon wußte zu Wang Lee Chans Zeit noch niemand etwas. Für Wang Lee war Temudschin weder ein Khan noch ein Dschinghis-Khan bedeutet im chinesischen und mongolischen Sprachraum König oder hoher Fürst, und dschinghis ist das Wort für »sehr mächtig« – sondern er war nicht mehr als ein verdammter Plünderer und Eroberer, der mit seiner Horde mordend und brandschatzend durch das Land ritt. Wang Lee Chans Provinz war verheert worden, und Wang Lee war einer der wenigen Überlebenden.
    Er hatte Rache geschworen. Er mußte Temudschin töten.
    Er war schon in seinem Zeltlager. Er war schon in das Zelt des Temudschin eingedrungen, als das grelle Licht kam. Und jetzt fand Wang Lee sich unter einer fremden, viel heißeren Sonne wieder, und in der Nähe eines Dorfes aus hölzernen Häusern, die völlig anders aussahen als der Baustil, der ihm bekannt war.
    »Wo bin ich?« wiederholte er. Er sah an sich herunter. Weiche Schuhe aus Leder, ein helles Beinkleid und eine rote Gürtelschärpe – das war alles. Waffen besaß er keine; in Temudschins Lager gelangte kein Fremder, wenn er nicht unbewaffnet kam. Aber Wang Lee Chan brauchte keine Waffen. Seine Hände und Füße reichten ihm. Sein ganzer Körper war eine einzige Vielzweckwaffe.
    Die Tätowierung auf seinem kahlen Schädel glänzte im Sonnenlicht, aber das konnte er selbst nicht sehen.
    »Wenn ich wissen will, wo ich bin, muß ich Menschen fragen«, beschloß er. Er nahm an, daß der Temudschin einen mächtigen Schamanen besaß, der ihn, Wang, mit einem starken Zauber nach irgendwo versetzt hatte, ehe er Temudschin erschlagen konnte. Aber wo es einen Weg nach hier gab, gab es auch einen Weg zurück nach dort. Man mußte ihn nur finden.
    Wang Lee hatte den Überfall von Temudschins Horde auf seinen Landsitz überlebt, und er würde noch mehr überleben. Und irgendwann würde er Temudschin wiederfinden und ihn töten.
    Temudschin hatte ihm alles genommen. Haus, Familie, Untertanen.
    Aber in dieser Provinz konnte nur der herrschen, der zum Herrschen geboren war, und das war eben Wang Lee Chan. »Ich hole mir mein Land und mein Volk zurück, Temudschin«, murmelte er. »Und dazu dein jämmerliches Leben. Schade, daß du nicht einmal spüren wirst, wie schnell du stirbst, aber wenn ich vor dir stehe, darf ich kein Risiko eingehen…«
    Er verdrängte die Vorstellung vom unter seinen Fingern zusammenbrechenden Temudschin wieder. Zunächst mußte er den Weg zurückfinden.
    Und je näher er den Häusern kam, desto mehr reifte in ihm die Erkenntnis, daß er sehr, sehr weit entfernt sein mußte. Denn diese Kultur, die sich ihm zeigte, war fremder als alles, was er sich jemals hatte vorstellen können.
    ***
    »Bei Odin!« knurrte der Wikinger heiser. »Das darf doch nicht wahr sein!«
    Mitten aus dem Dorf heraus, in dem er plünderte und Männer erschlug, war er herausgerissen und nach anderswo versetzt worden. Verdammt heiß war es hier, und unter dem schweren Helm rann ihm der Schweiß übers Gesicht. Er sah sich um. »Wo bin ich hier? Odin, was tust du mit deinem Sohn? Oder ist es finsterer Zauber unserer Feinde?«
    Die Luft roch nicht nach See. Er mußte tief im Inland sein, fernab der Küste. Es würde ein schwerer Weg dorthin sein. Und der Verdacht reifte in Olaf Schädelbrecher, daß er sich auch nicht mehr im Nordland befand.
    Hieß es nicht, daß es so furchtbar heiß nur tief im Süden sein sollte, wo die Menschen schwarz waren?
    »Odin, sprich zu mir«, murmelte er. »Oder hast du hier keine Macht mehr über die Sterblichen? Bin ich zu weit von dir entfernt?«
    Aber Odin sprach nicht zu ihm. Und so mußte Olaf Schädelbrecher annehmen, daß die Götter ihn verlassen hatten. Allein auf sich gestellt, mußte er zusehen, wie er zurechtkam.
    »Wer immer dafür verantwortlich ist«, knurrte er, »er wird sich wundern! Vielleicht ist dies ein Wink des Schicksals… man hört so viel erzählen, und bestimmt bin ich nicht der erste, der in ein fremdes Land verschlagen wird und sich dort ein Weltreich errichtet…«
    Er grinste und wurde wieder munter, faßte neuen Lebensmut. Auch wenn Odin ihn verlassen hatte – er sah sich schon als König.
    König Olaf Schädelbrecher! Das klang doch sehr vielversprechend!
    Der Wikinger
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