Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
0104 - Portaguerra

0104 - Portaguerra

Titel: 0104 - Portaguerra
Autoren: Richard Wunderer
Vom Netzwerk:
mehreren Sprachen wurde vor der Nordwand gewarnt. Der Einstieg war nämlich so einfach, daß sich immer wieder Halbschuhtouristen verleiten ließen. Aber einmal in der Wand, fanden die meisten keinen Weg mehr zurück. Etliche waren schon abgestürzt. Den Lerois-Brüdern konnte so etwas nicht passieren. Jeder von ihnen war trotz der sommerlichen Hitze warm angezogen. In der Nordwand war es empfindlich kalt. Jeder trug einen Rucksack, Jerome über der Schulter das Seil.
    »Wie weit steigen wir denn hinunter?« fragte Jean, als sie die letzte Warntafel passierten.
    »Mal sehen«, gab Jerome zurück und deutete nach vorne. »Da ist doch einer in der Wand!«
    Jacques beugte sich zur Seite. Sie gingen bereits auf dem schmalen Weg, der in die Todeswand hineinführte. »Ich sehe nichts!«
    »Jetzt ist er wieder verschwunden.« Jerome blieb stehen und schüttelte den Kopf. »Hat gar nicht wie ein Bergsteiger ausgesehen. Eher wie eine Frau in einem langen Nachthemd.«
    »Du spinnst«, erklärte Jean grinsend. »Frauen, Frauen, Frauen! Überall siehst du Frauen! Du bekommst eines Tages noch einen Koller.«
    Jacques lachte mit dem Jüngsten, aber Jerome blieb ernst. Langsamer ging er weiter, bis der gebahnte Weg zu Ende war. Tief unter sich sahen sie das Tal, durch das sich die Eisenbahn wie ein dunkler Wurm schlängelte. Direkt zu ihren Füßen lag Modane, Bahnstation und letzte Stadt vor der italienischen Grenze. Der Col du Lauterset schien die aus dieser Höhe wie Spielzeug wirkenden Häuser zu erdrücken.
    Wenn sie den Blick hoben, hatten sie ein herrliches Panorama vor sich. Die Sicht war klar und reichte bis nach Italien hinein. Hätte es nicht die aus Staub und Abgasen gebildete Schicht über der Großstadt gegeben, hätten sie sogar Turin erkennen können. So aber genügte ihnen das Panorama der Gipfel, von denen sie jeden einzelnen kannten, weil sie ihn schon bestiegen hatten. Die Augustsonne tauchte die Berge in goldenes Licht.
    »Dann wollen wir!« rief Jacques aufmunternd. »Oder schläfst du, Jerome?«
    Zögernd ging Jerome Lerois drei Schritte vor und kniete nieder.
    Er deutete auf eine Stelle des Untergrundes, der hier aus sandiger Erde bestand. Als Jerome den Kopf wandte, blickten seine Brüder in ein bleiches Gesicht.
    »Das ist ein Abdruck«, murmelte Jerome betroffen. »Seht ihn euch an!«
    Er stand auf und stieg vorsichtig darüber hinweg. Dabei rutschte er von einem glatten Stein ab. Sein Schuh rammte in den Abdruck.
    Jerome murmelte eine Verwünschung.
    »Na und, was ist damit?« erkundigte sich Jean achselzuckend.
    »War der Abdruck so wichtig?«
    »Es war… es war …«, stotterte Jerome. Er sah seine Brüder aus großen Augen an. »Es war der Abdruck eines Skeletts!«
    Sekundenlang starrten ihn Jean und Jacques sprachlos an, dann warfen sie gleichzeitig die Köpfe in den Nacken und lachten schallend los.
    »Vorwärts, geh weiter!« rief Jacques mit Tränen in den Augen.
    »Du willst uns verkohlen!«
    »Nein, wirklich, es ist…«
    »Ach, sei still!« Jean wurde ärgerlich. Er drängte sich an die Spitze und schritt rasch auf der Route voran, die sie schon ein paarmal benutzt hatten, um in die Wand einzusteigen. Jacques folgte ihm kopfschüttelnd, und Jerome blieb nichts anderes übrig, als sich anzuschließen.
    Er war jedoch unter der braunen Haut leichenblaß geworden und biß die Zähne zusammen, daß sich seine Wangenmuskeln scharf abzeichneten.
    Fünf Minuten später begann die eigentliche Wand. Hier kamen sie nur mehr voran, indem sie sich von einem Vorsprung zum anderen gleiten ließen, sich seitlich auf kaum handbreiten Felsenbändern entlang schoben, stellenweise in engen Kaminen nach unten rutschten und mit Fingerspitzen und den harten Rändern ihrer Bergschuhe an Stellen Halt fanden, die ein anderer nicht einmal mehr entdeckt hätte.
    Die drei jungen Männer kletterten schweigend und konzentriert.
    Sie genossen es, ihre Kräfte mit dem Berg zu messen. Jeden Muskel angespannt, kämpften sie sich Meter für Meter tiefer, bis sie die »Nase« erreichten, einen Felsvorsprung, auf dem bis zu sieben Mann Platz fanden.
    »Pause«, bestimmte Jean. Seine Augen leuchteten, als er seinen Brüdern entgegensah. »Wir…«
    Er brach mit einem erstickten Röcheln ab. Von der »Nase« lief ein Felssims weiter, bog scharf um eine Felskante und verschwand aus ihrem Blickfeld.
    Hinter dieser Felskante tauchte eine bleiche Hand auf, schnellte wie eine zustoßende Schlange vor und traf Jean an der Schulter.
    Der
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher