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0101 - Die Menschentiger

0101 - Die Menschentiger

Titel: 0101 - Die Menschentiger
Autoren: Franc Helgath
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Standbild. Sie nahm den Tigerschädel auf dem Zepter in beide Hände und drehte ihn langsam nach hinten. Um Zamorra herum verblaßten die Fackeln, erstarben. Von allen Seiten strömte eine unsagbare Kälte auf ihn ein, die ihn frösteln ließ. Doch er spürte keinerlei Schmerzen. Nur seine Umgebung blieb verschwommen. Sie blieb es lange Zeit, und er spürte nur Rahndras warmen Griff um seinen Arm.
    Wer hielt wen fest?
    Das Mädchen zitterte. Zamorra blieb kalt. Wie immer, wenn er vor einer Entscheidung oder einer Handlung stand, deren Tragweite kaum absehbar war. Hier sollte er offenbar eine noch nicht in ihrer Zahlenstärke bekannte Zahl von Halbgeistern den. Klauen jenes Dämons entreißen, den sie selbst gerufen hatten.
    Dann nahm seine Umgebung langsam Gestalt an.
    Er fand sich in der unermeßlich vergrößerten Ausgabe jener Schlucht wieder, die er eben an der Hand Rahndras durchschritten hatte, um zur Höhle mit Durghas Standbild zu gelangen. Er stand am Ende des Tals. Bestialischer Raubtiergeruch stieg ihm entgegen. Zu seinen Füßen tummelten sich Wesen, die einen Tigerkörper und menschliche Köpfe hatten. Diese Menschenköpfe fauchten und brüllten. Reißzähne ragten aus ihren Gebissen, legten sich über die Unterlippen. Gestreifte Schwänze peitschten die kaum atembare Luft.
    »Hier siehst du es«, sagte Rahndra erstickt. »Unser Jammertal. Wir alle möchten ihm entrinnen. Wir wollen endlich tot sein. Wir wollen ruhen.«
    Die Höhle am Ende der Schlucht war mindestens zehnmal so hoch wie jene, die sie eben durchschritten hatten, um hierher zu gelangen. Das Innere der Grotte war von einem blutroten Vorhang verborgen, der in reichem Faltenwurf dem Grund der Schlucht entgegenfiel.
    Vor dem Vorhang ein Pfahl, hoch wie ein Fahnenmast, an dessen Top etwas Winziges glitzerte.
    »Mein Amulett?« fragte Zamorra, obwohl er die Antwort schon kannte.
    Rahndra nickte.
    »Wir haben uns gedacht, daß allein dessen Anblick genügen würde, den Tigerdämon zu vernichten. Er hat es bereits gesehen. Aber es hat ihn nicht vernichtet. Der Vorhang fiel wieder zu, und seither haben wir ihn nicht mehr zu Gesicht bekommen. Wir haben alle schreckliche Angst. Der Tigerdämon zerstört uns nicht. Er straft uns.«
    »So wie Khube? Deine Großmutter?«
    »Ja. So wie Khube. Sie ist auch als Menschentiger blind, aber sie ist nicht meine Großmutter. Khube ist 2000 Jahre älter als ich.«
    Zamorra wagte nicht, Rahndra danach zu fragen, wie lange sie schon unter der Knechtschaft des Tigerdämons stand.
    Doch Rahndra verschonte ihn nicht mit der Wahrheit.
    »Nach deiner Zeitrechnung wurde ich vor knapp eineinhalbtausend Jahren geboren, Zamorra. Aber ich fügte mich. Wenn ich Mensch wurde, durfte ich ein schöner Mensch sein. Das ist eine Gnade. Ich konnte vergangene Nacht menschlich fühlen, Zamorra. Und dafür danke ich dir. Nach diesem Erlebnis ausgelöscht zu werden, in der Erinnerung daran ins Nichts einzugehen — ich habe nichts Schöneres erwarten dürfen. Ich werde glücklich sein, wenn ich mit dieser Erinnerung verlösche…« Zamorra fiel nichts ein, was er darauf hätte sagen können. Er hatte einem fleischgewordenen Zwischenwesen zu irdischem Glücksempfinden verholfen? Was ließ sich überhaupt dazu sagen? Nichts.
    Gar nichts.
    Und trotzdem kam er um ein nur dumpf empfundenes, zärtliches Gefühl für das Wesen an seiner Seite nicht herum. All diese Erlebnisse, die er während der letzten beiden Tage gehabt hatte oder über sich ergehen lassen mußte, hatten den Rahmen seiner bisherigen Erfahrungen gesprengt. Warum sollte er nicht einmal auch versuchen, dämonischen Wesen — und die Menschentiger waren wohl welche — zu helfen.
    Nur eine letzte Frage hatte Zamorra noch: »Warum verwandelst du dich nicht auch, Rahndra?«
    »Weil ich an deiner Seite bin, Zamorra. Deshalb weiß ich auch, daß du Shirangar vernichten kannst.«
    »So heißt er?«
    »So hieß er schon immer. Laß mich bitte an dir festhalten, wenn du zur Grotte hinuntergehst. Ich will nicht, daß du mich so siehst, wie ich wirklich bin.«
    Zamorra wollte das auch nicht. Er wollte sich einige Illusionen bewahren. Die Nacht mit Rahndra ging ihm nach. Er wollte sie sich nicht zerstören lassen.
    Dabei wuchs sein Zorn auf den Tigerdämon. Er faßte Rahndra nun selbst an der Hand, damit er nicht plötzlich einen fauchenden Menschentiger an seiner Seite hatte.
    Sie schritten hinunter ins Tal.
    Diese Alpträume von Bestien machten ihnen bereitwillig Platz.
    Zamorra
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