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01 - Schatten der Könige

01 - Schatten der Könige

Titel: 01 - Schatten der Könige
Autoren: Michael Cobley
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Glassplitter stürzten zwischen die Bänke, als geflügelte Kreaturen sich herabschwangen. Suviel taumelte zu der Tür hinter dem Altar, und verdankte es nur der aufmerksamen Nerek, dass sie nicht strauchelte. Sie warf noch einen letzten Blick zurück und sah, dass die Dämonenbrut und Keren vom Lodern des Brunn-Quell aufgehalten wurden, während sie sich gleichzeitig der Flammenspeienden Nachjäger erwehren mussten. Außerdem erkannte sie noch aus den Augenwinkeln Coireg, der mit mordlüsternem Blick auf sie zurannte, bevor Nerek sie durch die Tür und die Treppe hinaufgezogen hatte.
    Benommen von Verzweiflung und Mattigkeit taumelte sie die Treppe hinauf. Mit einer Hand hielt sie sich an Nerek fest, mit der anderen stützte sie sich an der steinernen Wand des Treppenhauses ab. Sie fühlte sich vollkommen erschöpft, und sie fragte sich, ob sie genug Kraft besaß, das Kristallauge zu nutzen, wenn sie es gefunden hatten.
    Als sie den Treppenabsatz erreichten, war Suviel am Ende ihrer Kräfte. Sie betraten ein viereckiges Turmgemach, mit Pfeilern an drei Seiten, die ansonsten offen für die Elemente waren. Ein heftiger, bitterkalter Wind fegte hindurch, und Suviel glaubte sich zu erinnern, dass vor der Invasion dieser Ort den Rektoren der Akademie als privater Ort für ihre Meditationen gedient hatte. Von hier aus konnte man über die Gipfel von Prekine bis zu den Ländern südlich von Angathan und die weiten Ebenen von Khatris blicken. Unter der schmalen, umlaufenden Brüstung lag in einiger Tiefe das Dach der Basilika und dahinter der Abgrund, der sich bis zum Oshang Dakhal erstreckte.
    Suviel schwindelte, und sie ließ sich auf eine verwitterte Holzbank fallen, während sich Nerek neben einen steinernen Behälter hockte, der in den gepflasterten Boden eingelassen worden war. Suviel schloss die Augen, während die Müdigkeit ihre Nerven beinahe zum Zerreißen brachte, und fühlte Erschütterungen durch die Bank, auf der sie saß. Sie flüsterte ein Gebet an die Erden Mutter , dass Keren irgendwie überleben möge.
    Einen Moment später veranlasste ein Knacken sie, ihre Augen wieder zu öffnen. Sie sah die gähnende Öffnung in einem steinernen Behälter und Nerek, die ihr mit beiden Händen eine blassblaue Kugel entgegenstreckte, die unordentlich in ein weißes Tuch eingewickelt war.
    »Nimm es«, sagte das Spiegelkind. »Es wäre mein Tod, wenn ich versuchen würde, es zu benutzen. Dies ist für dich bestimmt.«
    Suviel seufzte. »Ich bin ausgebrannt«, bekannte sie und betrachtete die Kugel, ihren dunklen Schimmer, die makellose Perfektion ihrer glasigen Oberfläche, in der sich bei dem spärlichen Licht nur wenig Reflexe fingen. Suviel hatte sie erst zweimal zuvor gesehen, beide Male bei öffentlichen Zeremonien und jeweils aus beträchtlicher Entfernung. Damals war das Kristallauge der Brennpunkt vieler Geister und großer Verehrung gewesen, doch jetzt schien es keine Essenz und keine Aura mehr zu besitzen, jedenfalls keine, die sie erkennen konnte.
    »Ich bin ausgebrannt«, wiederholte sie flüsternd, hob jedoch dennoch die Hände und nahm das Kristallauge entgegen.
    Im selben Moment ertönte ein wütendes Brüllen, doch Suviel achtete nicht darauf. Ihr war, als würden alle verschlossenen Türen in ihrem Verstand aufspringen und eine Myriade Erinnerungen freilassen. Die Gesichter und Namen ihrer Familie und Freunde kehrten zu ihr zurück, ebenso die Bilder aus ihren Zeiten als Scholarin hier in Trevada, aus ihrer Zeit in Besh-Darok, dem Krieg, den langen Jahren im Widerstand. Und die Erinnerung an Ikarno Mazaret.
    Dass man dich mir weggenommen hat!, dachte sie. Das darf nie wieder geschehen. Ein donnernder, erschütternder Schlag von weiter unten ließ den Turm wanken. Nerek hastete zum Anfang der Treppe und Suviel erhob sich von der Bank. Ihre Müdigkeit war wie weggeblasen. »Ich kann vielleicht das Auge benutzen, um uns irgendwohin zu bringen, wo wir in Sicherheit sind«, sagte sie.
    Steine polterten, und Nerek drehte sich um und nickte kurz. Ein grünes Leuchten fiel auf ihre Züge. »Das wäre gut«, erwiderte sie. »Bevor sie die Trümmer weggeschafft haben.«
    Noch bevor Suviel antworten konnte, erbebte der Turm erneut unter einem heftigen Schlag und warf sie beide zu Boden. Risse liefen über einige Pfeiler, und Mauerwerk fiel von der Brüstung. Suviel spürte eine Hand um ihren Knöchel und sah Keren, die auf sie zukroch, ein unmenschliches Glühen in den Augen.
    Ich wittere den Duft deines Geistes,
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