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0077 - Das Phantom der Insel

0077 - Das Phantom der Insel

Titel: 0077 - Das Phantom der Insel
Autoren: Dieter Saupe
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sich nach uraltem Brauch die Frauen und stimmten den Klagegesang des Bergvolkes an.
    Drei Tage und drei Nächte lang wurden die Geister der Erde und des Waldes beschworen. Sie wurden angerufen, daß sie den Überlebenden Kraft gaben, um gegen die feindlichen Dämonen zu bestehen.
    Am vierten Tag rüstete sich das ganze Dorf zur Beisetzung.
    ***
    Es war ein strahlender Sonnentag.
    Niemand hätte an Tod, Gewalt und Leid denken können, wenn er ahnungslos in die reizvolle Landschaft der Berge gekommen wäre.
    Auf den Hängen weideten, wie vor vielen hundert Jahren schon, die großen Herden der Mufflons, der Wildschafe.
    Auf den Feldern wogte das Korn, standen Tabak, Orangen, Feigen, Mandeln und Artischocken. Die wärmende Sonne ließ alles heranreifen, üppig gedeihen.
    Sonnenlicht und ein leichter Wind von den Hügeln. Das Gold der Orangen. Die zarten Linien der hohen Pinien, die stolzen Tamarisken, der duftende Wacholder.
    Aber das Paradiesische der Insel war überschattet von Trauer und Tod. Niemand hatte Augen für die Schönheiten der Landschaft.
    In dumpfem Sprechgesang gingen die Dorfbewohner hinter dem Sarg her. Und als später die schwarze Erde, Schaufel für Schaufel, in die Grube fiel, verstärkte sich der Klagegesang noch einmal.
    Nach der Beisetzung nahm der alte Pfarrer die Schwester des Toten zur Seite.
    »Signora Cofales, auf ein Wort«, bat er leise.
    Stumm sah sie ihn an, hob ihr schmerzerfülltes Gesicht und konnte die Tränen nicht zurückhalten.
    »Der Allmächtige hat es gewollt«, begann der Pfarrer.
    Da fuhr die Frau aus ihrem Schmerz auf, sah den Priester mit bösem Blick an.
    »Ihr wißt, daß es nicht so ist«, sagte sie. »Wir sind der Rache des Teufels verfallen, der Lo Sardo heißt. Ich weiß es, und ihr wißt es auch.«
    »Sie sollten nicht so heidnische Reden führen«, tadelte der Pfarrer.
    »Pah!« schrie die Frau los, und sie schien von einer Sekunde auf die andere ihre gesamten Qualen und Schmerzen von sich geworfen zu haben. »Was ist an eurer verdammten Insel denn nicht heidnisch, he? In allen Bäumen habt ihr einen Geist sitzen. In jeder Quelle hockt ein überirdisches Wesen. Sardinien, nicht wahr? Was ist das denn, euer Sardinien? Eine Insel, die uns das Leben nimmt. Eine Insel, die ihr für euch haben wollt. Und ihr seid alle mit diesem Lo Sardo im Bunde, ich weiß es! Jeder, der nicht hier geboren wurde, weiß es!«
    »Ihr sollt nicht so reden!« sagte der Mann in der festlichen Soutane.
    »Ich rede, wie ich denke«, gab die Frau zurück. »Denn ich weiß, daß ihr uns hier nicht haben wollt. Wir haben nicht das Blut Sardiniens in den Adern. Wir sind Spanier, und wir sind stolz darauf. Auch wir sind fleißige Menschen, genau wie ihr.«
    »Niemand bezweifelt das, Signora.«
    »Aber man gönnt uns nicht, was wir geschaffen haben. Wenn wir unsere Früchte ernten, beneidet ihr uns. Ihr tut so, als saugen wir euch das Mark aus den Knochen, gebt es nur zu!«
    »So werdet ihr nicht mit mir weiterreden!« donnerte der Pfarrer los.
    »Ich werde reden, wie es mir in den Kopf kommt«, fauchte die Frau ihn an. »Ihr glaubt, daß wir eure Insel ausbeuten, nicht wahr? Und ihr wißt genau, daß Lo Sardo nur in eurem Sinne handelt. Er mag die Spanier nicht. Dabei verfolgt er uns mit seiner Rache, obwohl wir längst keine richtigen Spanier mehr sind. Wir gehören seit Generationen zu dieser Insel.«
    »Niemand bezweifelt das, Signora’«, sagte der Mann.
    »Mein Bruder ist der vierte«, erwiderte Maruns Schwester. »Der vierte Mann in drei Wochen. Da ist nichts mehr zu beweisen. Jeder der vier Männer ist der Nachkomme eines Spaniers. Ihr glaubt, daß wir eure Insel beschmutzen oder auslaugen, nicht wahr? Wer eine Orange auf eurer Insel erntet, saugt eurer Erde das Blut aus den Adern, nicht wahr? Wer sich bei euch ein Stück Land kauft, den hat der Teufel geschickt, wenn er nicht gerade ein Sardinier ist. Gebt es zu!«
    »Das kann ich nicht zugeben«, sagte der Pfarrer.
    »Und ihr gebt auch nicht zu, daß ihr gegen die Leute wettert, die ihr eigenes Land wieder verkaufen?«
    Da sah der Mann fassungslos auf die Frau.
    »Was soll das, Signora?« fragte er.
    »Ihr wißt genau, was es soll«, war die Antwort. »Marun, mein Bruder, hat vor zwei Wochen das Westfeld verkauft. Er ist zu alt geworden. Er kann es nicht mehr bebauen.«
    »Wenn wir alles verkaufen, kommen immer mehr Fremde.«
    »Ja«, sagte die Frau. »Immer mehr Fremde. Und was tun sie euch, ihr Sardinier? Gut, sie kaufen hier Land, sie
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