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0027 - Die Grotte der Gerippe

0027 - Die Grotte der Gerippe

Titel: 0027 - Die Grotte der Gerippe
Autoren: Susanne Wiemer
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in den gepflasterten Innenhof von Château Montagne geweht hatte.
    Die Unruhe blieb.
    Sie ließ sich nicht vertreiben durch den Anblick des herrlichen Morgens und auch nicht durch die eiskalte Dusche, die der Professor in dem modernen, mit allem Komfort ausgestatteten Badezimmer neben seinem Schlafraum nahm. Zamorra machte Toilette, streifte Kordjeans und einen warmen Pullover aus irischer Schafswolle über und während er das Zimmer verließ, kämpfte er gegen das Verlangen, noch vor dem Frühstück eine Zigarette zu rauchen.
    Raffael, der Butler, hatte bereits den Tisch gedeckt.
    Café noir dampfte in der Kanne, die frisch gebackenen Croissants dufteten, es gab goldgelbe Sommerbutter, eine köstliche Käseplatte und frische Milch, die noch warm war und ihr ganzes natürliches, leicht süßliches Aroma besaß. Professor Zamorra war ein Liebhaber guten Essens, er schätzte raffinierte, erlesene Speisefolgen ebenso wie einfache, unverfälschte Genüsse. Aber an diesem Morgen konnte weder das verlockende Frühstück seine Stimmung heben noch der anregende Anblick seiner Sekretärin, die gerade die Treppe von der Galerie herunterkam.
    Nicole Duval strahlte wie der junge Morgen. In ihren braunen Augen tanzten Goldfunken, in ihrem braunen Lockenschopf hoben sich die eingefärbten blonden, lohfarbenen und rubinroten Strähnen wie helle Sonnenreflexe und winzige Flämmchen ab. Sie trug einen langen Bauernrock zur weißen, bestickten Bluse, und sie bewegte sich so beschwingt, daß der bunte Stoff bei jedem Schritt seine ganze Weite entfaltete.
    Erst als sie Zamorras Gesicht sah, erschien zwischen ihren Augen die kleine, charakteristische V-Falte.
    »Sie haben schlechte Laune, Chef«, stellte sie fest. Und dann erst fügte sie hinzu: »Guten Morgen!«
    Zamorra lächelte leicht. Er kannte die charmante, höchst kapriziöse Französin lange genug und hatte sich daran gewöhnt, daß sie bei ihrem Arbeitgeber sehr energisch gegen Stimmungstiefs, Überarbeitung und Streß aller Art vorzugehen pflegte. Bisweilen war sie strenger als eine Gouvernante und schneller mit Diagnosen bei der Hand, als es jede medizinische Kapazität geschafft hätte.
    »Ich habe durchaus keine schlechte Laune«, korrigierte der Professor sanft. »Ich mache mir allenfalls Sorgen.«
    »Sorgen worüber?«
    Das war ganz Nicole. Bei ihr paarten sich Intuition und zupackende Nüchternheit zu einer höchst reizvollen Variante weiblicher Logik. Es hatte lange gedauert, bis es in ihr hübsches Köpfchen gegangen war, daß auf dieser Welt auch Dinge existierten, die sich mit dem Verstand allein nicht erklären ließen.
    »Sorgen worüber?« wiederholte sie jetzt energisch.
    »Ich weiß es nicht genau«, murmelte Zamorra.
    »Chef!« Nicole hob die linke Braue; es wirkte mißbilligend. »Wenn man sich Sorgen macht, muß man auch wissen, worüber. Sonst sind es nämlich keine Sorgen, sonst ist es eben einfach schlechte Laune.«
    »Irrtum, Nicole! Sie sollten inzwischen wissen, daß man sehr wohl die besorgniserregenden Aspekte eines Vorgangs erfühlen kann, ohne den Vorgang selbst zu kennen. Aber lassen wir das jetzt. Zuerst wird gefrühstückt.«
    Nicole seufzte.
    Sie seufzte immer, wenn sie sich an einen verlockend gedeckten Tisch setzte. Ihre Vorliebe für gutes Essen war genauso ausgeprägt wie die ihres Chefs, aber im Gegensatz zu Zamorra hatte sie trotz Sport und viel Bewegung ständig mit den genau drei Pfund und zweihundert Gramm Gewicht zu kämpfen, die ihrer Meinung nach überflüssig, von der Natur jedoch ganz offensichtlich vorgesehen waren.
    Sie brauchte zwei Minuten, um mit ihrer Kalorienrechnung ins Reine zu kommen, dann ließ sie es sich schmecken. Auch Zamorra griff kräftig zu – doch Nicole merkte genau, daß er mit seinen Gedanken anderswo war. Als er nach dem Frühstück die Treppe hinaufstieg und am Ende der Galerie die Tür öffnete, die auf den Wehrgang des ehemaligen Vorratshauses führte, schickte sie ihm einen sehr nachdenklichen Blick hinterher.
    Château Montagne war in seiner ursprünglichen mittelalterlichen Gestalt vollständig erhalten geblieben. Von außen hatte es immer noch das festgefügte, ein wenig düstere Gesicht der Trutzburg, lediglich die Innenausstattung war verändert und auf den neuesten Stand gebracht worden. Die Schießscharten des Wehrgangs zum Beispiel hatten sich in Fenster verwandelt. Holzvertäfelungen und ein dicker Teppich bedeckten die mächtigen Bruchstein-Quader. Der Gang endete im Westturm, wo die Bibliothek
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