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0009 - Der Hexenmeister

0009 - Der Hexenmeister

Titel: 0009 - Der Hexenmeister
Autoren: Gerhart Hartsch
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Dorfes sprachen aber noch heute darüber. Sie hüteten sich, der Ruine zu nahe zu kommen. Sie warnten Fremde. Sie wollten keine Unberufenen bei sich haben, die dem Geheimnis zu Leibe rückten.
    Bill Fleming stand wie vom Donner gerührt.
    »Diesen Anblick sehne ich seit zehn Jahren herbei«, flüsterte der baumlange Amerikaner. »Seit ich an dem Problem der Häretiker des dreizehnten Jahrhunderts arbeite und auf die Spuren der Katharer des Languedoc und der Albigenser gestoßen bin, fasziniert mich der Gedanke, neue Beweisstücke zu finden. Dort oben in der Ruine finde ich sie. Ich werde hinaufgehen.«
    Es schien, als gewänne das frühchristliche Bauwerk aus den Anfängen des elften Jahrhunderts eine rätselhafte Macht über den Betrachter. Er konnte seinen Blick nicht mehr losreißen. Bill Fleming schien wie hypnotisiert!
    Nicole Duval aber empfand nichts als die stumme Drohung, die von den geborstenen Steinen ausging. Da war etwas, was alle Schrecken und Ängste in den Schatten stellte, die eines Menschen Hirn ersinnen konnte. Das zwang einen, sich mit Ketten von Knoblauch zu schützen, die nachts von den Fensterkreuzen baumelten.
    Die Einwohner von Pelote gingen noch weiter. Sie nagelten die knotigen Wurzeln der Mandragora an ihre Türen, um durch die mysteriöse Kraft dieser Alraune das Böse zu bannen, das in der verfallenen Basilika lauerte, an seinen Ketten rüttelte und auf den Frevler wartete, der es in Freiheit setzte.
    »Von nun an wird nichts anderes in meinem Kopf Raum haben als der Gedanke an die Basilika der Sekte der ›Verzehrenden Wahrheit‹. Mir ist, als schlummere dort oben aller Rätsel Lösung«, murmelte Bill Fleming. Seine Augen leuchteten plötzlich in einem überirdischen, beinahe gierigen Feuer.
    Nicole Duval aber erschauerte.
    »Tun Sie es nicht, Bill«, beschwor das Mädchen den Amerikaner.
    Erschrocken schwieg Nicole.
    Ein Duft von Weihrauch und Myrrhe lag plötzlich schwer in der Luft. Fackelschein geisterte durch zerbrochene Torbögen. Töne erklangen dort oben. Ein eintöniger Singsang. Fremdartig und beschwörend wie ein gregorianischer Choral.
    »Hören Sie, Nicole?« rief Bill Fleming. »Das ist mittelalterliches Französisch! Ich würde es nicht glauben, wenn ich es nicht deutlich hören könnte. Verstehen Sie es jetzt auch?«
    »Das ist der Wind, der durch leere Fensterhöhlen weht«, erwiderte Nicole Duval erschrocken. »Bill! Wenn Sie nicht sofort Vernunft annehmen, alarmiere ich Professor Zamorra. Der versteht sich auf derlei Dinge. Sie wollen ein ernstzunehmender Wissenschaftler sein? Kommen Sie, wir verlassen schleunigst diesen unheimlichen Ort. Kein Wunder, daß Pelote seit Jahrhunderten in einem Dornröschenschlaf liegt.«
    »Nein«, erwiderte Bill ein wenig heiser. »Ich bleibe hier, Nicole!«
    »Aber ohne mich«, versicherte Nicole Duval energisch.
    Bill Fleming schien aus einem Traum zu erwachen. Verwirrt schaute er seine Begleiterin an. Ein harter Glanz trat in seine Augen.
    »Sie bleiben, Nicole!« befahl der baumlange Amerikaner und packte die hübsche Französin brutal am Handgelenk. »Ohne Sie schaffe ich es nicht. Also helfen Sie mir. Ich will hinaufgehen und diese Ruine in Augenschein nehmen – und wenn es mich das Leben kostet!«
    Der Amerikaner entriß dem Mädchen den Wagenschlüssel und schleuderte ihn weit fort, hinaus in die mondhelle Nacht.
    Klirrend schlug das Schlüsselbund nach einer Weile gegen die Mauer aus Feldsteinen, die das Grundstück auf der nördlichen Seite abschloß, dort, wo man einen besonders guten Blick auf die düstere Ruine an der Flanke des Berges Col de la Chutte, den Berg des Sündenfalls, hatte.
    »Wir müssen also bleiben«, höhnte Bill. »In dieser gottverlassenen Gegend gibt es keine andere Transportmöglichkeit. Ich bin ohnehin dazu entschlossen. Und Sie, Nicole, haben jetzt keine andere Wahl mehr. Wir werden es wagen! Wir werden vorstoßen bis zur Basilika, die in der Zeit der Inquisition mit Feuer und Schwert vernichtet wurde – zusammen mit der Sekte der ›Verzehrenden Wahrheit‹.«
    Stumm vor Grauen starrte Nicole Duval auf ihren Begleiter. Sie hatte Bill Fleming nie anders kennengelernt als einen höflichen, charmanten und nüchtern denkenden Mann.
    Welche entsetzliche Macht hatte auf Bill Fleming Einfluß genommen? Wohin hatten die Forschungen, von denen er sich soviel versprach, geführt? Was war die ›Sekte der Verzehrenden Wahrheit‹?
    Was bedeuteten die rätselhaften Vorgänge im Gasthof? Fragen über Fragen.
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