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Zwischen uns die Zeit (German Edition)

Zwischen uns die Zeit (German Edition)

Titel: Zwischen uns die Zeit (German Edition)
Autoren: Tamara Ireland Stone
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zusammen und steige die Stufen hinauf.
    Er ist tatsächlich weg. Aber an der Stelle, an der er eben noch gesessen hat, ist der Schnee platt gedrückt und auf der darunterliegenden Bank sind deutlich zwei Fußabdrücke zu erkennen.
    Und noch etwas fällt mir auf.
    Im Gegensatz zu meinen eigenen Abdrücken auf den Stufen und dem Weg hierher sind von ihm ansonsten nirgends welche zu sehen. Da, wo sie sein müssten, ist nichts als eine Schicht jungfräulichen weißen Schnees.

2
    Ich stürme ins Haus und nehme auf dem Weg ins Obergeschoss immer zwei Treppenstufen auf einmal. Im Bad drehe ich die Dusche an, schäle mich aus meinen verschwitzten Laufklamotten und stürze durstig ein Glas Leitungswasser hinunter, während heißer Wasserdampf den Raum erfüllt. Mein Spiegelbild in der Tür des Badezimmerschränkchens verblasst hinter einer dichten Dunstschicht, und als nichts mehr von mir zu sehen ist, reibe ich mit der Handfläche einen mit feinen Tröpfchen gesprenkelten Kreis ins Glas und betrachte mich stirnrunzelnd. Bin ich verrückt geworden?
    Eigentlich sehe ich ganz gesund aus.
    Unter der Dusche denke ich immer noch darüber nach, ob da tatsächlich keine Fußspuren gewesen sind oder ob ich sie aus irgendeinem Grund bloß übersehen habe. Während ich in den Rock und die Bluse meiner Schuluniform schlüpfe, blitzt vor meinem inneren Auge immer wieder das Gesicht des Typen auf, aber ich schiebe es energisch weg. Wahrscheinlich ist an der Sache überhaupt nichts komisch und ich sollte nicht weiter darüber nachdenken. Trotzdem nehme ich mir vor, die nächsten Tage nicht im Stadion zu laufen.
    Als ich den Reißverschluss an meinen Stiefeln zuziehe und mir anschließend im Spiegel an meinem Kleiderschrank noch einen letzten prüfenden Blick zuwerfe, schüttle ich die Ereignisse des Morgens endgültig von mir ab. Ich fahre mir mit den Fingern durch meine Locken und versuche sie halbwegs in Form zu bringen, aber es ist zwecklos. Sie stehen danach genauso wild ab wie vorher.
    Seufzend schwinge ich mir meinen Rucksack über die Schulter, gehe zu der riesigen Weltkarte, die an der Wand gegenüber von meinem Schreibtisch hängt, und beginne den Tag mit meinem gewohnten Ritual. Vor der Karte stehend schließe ich die Augen, hebe die Hand, lasse sie kreisen und tippe dann willkürlich mit dem Zeigefinger auf irgendeinen Punkt. Ich öffne die Augen wieder: Callao, Peru. Perfekt. Ich hatte auf einen Ort gehofft, an dem es schön warm ist.
    Irgendwann während der letzten Sommerferien hat mein Vater, der von meinem Fernweh weiß, mich mit dieser Riesenweltkarte überrascht, die er heimlich in der Garage auf eine Styroporplatte aufzog und in meinem Zimmer aufhängte. » Darauf kannst du all die Orte markieren, an denen du schon mal gewesen bist«, erklärte er lächelnd und drückte mir ein Schächtelchen mit roten Stecknadeln in die Hand. Gerührt, aber auch etwas ratlos starrte ich auf die gigantische, von unterschiedlichen Braun-, Grün- und Blautönen beherrschte Papierfläche und sah eine topografische Abbildung der Welt, die nichts mit der zu tun hatte, in der ich lebte. Meine war viel, viel kleiner.
    Nachdem Dad aus dem Zimmer gegangen war, steckte ich nacheinander ein paar rote Nadeln in das Styropor. Als Erstes markierte ich Springfield, die Hauptstadt unseres Bundesstaates– im Jahr zuvor war ich mit meinem Sozialkundekurs dort auf Exkursion gewesen–, dann Ely im Nordosten von Minnesota, wo ich einmal mit meinen Eltern in der berühmten Boundary Waters Area Kanu gefahren bin, danach Grand Rapids in Michigan, wo wir vor Jahren einmal den vierten Juli gefeiert haben, und schließlich noch South Bend in Indiana, wo eine Tante von mir lebt, die wir zweimal pro Jahr besuchen. Vier Stecknadeln. Das war alles.
    Anfangs konnte ich nichts weiter sehen als diese lachhaften vier Nadeln, die sich auf der winzigen Fläche im Umkreis des Staates Illinois drängten, aber mittlerweile sehe ich die Karte so, wie Dad sie gedacht hat. Es ist, als würde sie mich dazu auffordern, jeden Quadratzentimeter der Erde mit eigenen Augen zu betrachten und die Grenzen meiner kleinen Welt so Schritt für Schritt– Nadel um Nadel– auszudehnen.
    Ich werfe einen letzten Blick darauf, dann springe ich die Treppe hinunter, auf der mir bereits köstlicher Kaffeeduft entgegenweht. Als ich in die Küche komme, füllt Dad gerade zwei Becher– einen mit schwarzem Kaffee für sich und einen mit Milch für mich. » Morgen!« Ich greife nach dem Becher,
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