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Zwienacht (German Edition)

Zwienacht (German Edition)

Titel: Zwienacht (German Edition)
Autoren: Raimon Weber
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dumpfen Poltern zu Boden gefallen. Richard war aufgeschreckt und zu verwirrt gewesen, um deuten zu können, woher das Poltern gekommen war. Er schüttelte nur unwillig den Kopf mit dem noch tauben Verstand, kaum fähig oben und unten, rechts oder links zu unterscheiden.
    Im Radio schwatzte der Moderator von den Heiratsplänen einer Schlagerdiva, dann ertönte leise ein Stück von ihrem neuesten Album.
    „Das war es dann für heute“, brummte Richard und schwang die Füße aus dem Bett. Er hockte noch eine Weile auf der Bettkante, drückte das Kinn gegen die Brust, faltete die Hände wie zum Gebet, während die grauen Haare zerzaust in alle Richtungen strebten. Richard war bereits mit dreißig ergraut und seit dem Vorfall vor einem Vierteljahr in Unna hatte er sich von seiner Stoppelfrisur verabschiedet und die Haare wachsen lassen, um seine alte Identität nicht nur mit einem neuen Namen zu verschleiern. Zusätzlich hatte er seinen Kinnbart abrasiert und die Kontaktlinsen gegen eine runde Nickelbrille eingetauscht. So war er Richard Gerling geworden. Bisher hatten es ihm die Döbelner abgenommen.
    Richard schlurfte zum Fenster. In den Häusern auf der gegenüberliegenden Straßenseite war nur ein einziges Fenster beleuchtet. Am Tage schaute dort häufig ein Rentner hinaus, stützte sich auf ein Kissen und beobachtete aus dem ersten Stock das Geschehen unter sich: spielende Kinder, Hausfrauen, die vom Einkauf zurückkamen und sich mit ihren vollen Tüten vom Discounter zu einem Schwatz auf dem Bürgersteig zusammenfanden.
    Der Rentner trug auch an den kälter werdenden Herbsttagen nur ein altmodisches, weißes Unterhemd. Er schien ein Waffennarr zu sein, denn auch jetzt konnte Richard durch den Schleier der Gardine eine Reihe von Gewehren und einen Krummsäbel an der Wand hängen sehen. Wenn der alte Mann, Richard am Fenster bemerkte, hob er grüßend die Hand und Richard fand es ein klein wenig tröstend, dass außer ihm noch jemand – egal ob Waffenfetischist oder nicht – zu solch früher Stunde wach war.
    Er stellte sich vor, wie sein Nachbar in diesem Moment in der Küche hockte, vor sich vielleicht eine Tasse Kaffee und ein Nachschlagewerk mit den Abbildungen historischer Karabiner und Pistolen.
    Die Straße, die Richard mit ihren Bauten und dem Kopfsteinpflaster immer ein wenig an das alte Berlin vor dem Mauerfall erinnerte, lag ruhig im Licht der Laternen. Nur eine kleine Katze schlich geduckt über das Pflaster, hielt kurz inne und verschwand dann aus Richards Blickfeld. Vermutlich suchte sie einen Weg in das leer stehende Nachbarhaus, dem einzigen nicht renovierten Gebäude der ganzen Straße. Ein marodes Paradies für Ratten, direkt hinter der Wand von Richards Wohnung. Bei seiner Ankunft hatte es ihn an einen riesigen, faulen Zahn erinnert. Die Eingänge und Fenster hatte man mit Brettern vernagelt und an die Ruine schloss sich eine ebenfalls verlassene Fabrik an.
    Richard hatte keine Ahnung, was dort zu Zeiten der DDR hergestellt worden war, aber vermutlich waren Abriss- und Entsorgungskosten zu hoch für potentielle Interessenten. Vielleicht würde die Fabrik noch ewig in parasitärer Vereinigung mit dem Wohnhaus vor sich hin verrotten.
    Richard streckte die schmerzenden Arme bis die Gelenke knackten, als der Schrei eines Tieres das Gedudel aus dem Radio übertönte. Schrill, überschnappend und voller Todesangst.
    Die Katze, fiel ihm ein. Er öffnete das Fenster, sofort drang ein Schwall kalter Luft durch den Spalt und ließ ihn frösteln. Er schlang den Bademantel um sich und lehnte sich weit vor, aber er konnte die Katze nicht entdecken. Vielleicht, sagte er sich, war sie im Kampf mit den Bewohnern der Ruine unterlegen. Wie um seine Vermutung zu bestätigen, begann wieder das emsige Kratzen hinter der Schlafzimmerwand.
    Schlafzimmer und Küche seiner Wohnung waren Wand an Wand mit der Ruine der Ratten. Aber er hörte sie nur im Schlafzimmer. Es war, als hätten sie nur darauf gewartet, bis er sich den Raum nach seinen Vorstellungen hergerichtet hatte, um ihm dann den Nerv zu töten.
    Er war nicht bereit, nur wegen dieser widerlichen Nager sein Hauptquartier zu verlagern.
    Richard presste ein Ohr gegen die Wand und das Geräusch war mit einem Mal so laut und unmittelbar, dass er zurückschreckte. Er stand starr auf der Stelle, atmete hektisch und ballte die Fäuste.
    „Scheiße!“, stieß er hervor und „Ich lasse euch umbringen!“
    Als hätten die Ratten ihn verstanden, stellten sie ihre
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