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Zwienacht (German Edition)

Zwienacht (German Edition)

Titel: Zwienacht (German Edition)
Autoren: Raimon Weber
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nahm sich eine Auszeit, unfähig zu verstehen, was hier geschah.
    Der untersetzte Kerl, der ihn getreten hatte, stand mit geballten Fäusten und bebenden Lippen vor ihm. Ein Regentropfen klatschte auf seinen Schädel. Der Mann fuhr sich beiläufig mit der Hand durch das schüttere Haar, ohne Richard aus den Augen zu lassen. Der Fotograf war jetzt bis auf ein paar Meter herangekommen und hob erneut seine Kamera für ein paar Nahaufnahmen.
    „Ni... ni..., nicht“, stotterte Richard. Da ließ ein neuerlicher Donnerschlag den Tag erbeben. Fette Tropfen klatschten vereinzelt auf den Asphalt des Schulhofs.
    „Ich rufe die Polizei“, schrillte eine Frauenstimme. Die Chorleiterin in dem verschwitzten Kleid musterte ihn aus sicherer Entfernung mit einem Blick, als sei Richard ein Mensch gewordenes Ekzem. In ihrer rechten Hand hielt sie ein Handy.
    Richard fragte sich, ob das alles nur ein Albtraum sei, als er lautes Fauchen vernahm. Als würde heißer Dampf aus einem Kessel entweichen. Plötzlich war er von grellem, purpurweißem Licht umgeben. Als würde er direkt in das Innenleben eines Halogenstrahlers starren.
    Dann sah, hörte und fühlte er gar nichts mehr.

Der Körper eines Menschen enthält sechs Liter Blut. Das ist ausreichend Rot, um damit mein Lieblingszimmer anzustreichen.

    Der Reisende

Spätherbst

    Richard Gerling spähte aus dem Fenster. Auf der Straße, ein Stockwerk unter ihm, schob ein Mädchen ihr Fahrrad über das nass glänzende Kopfsteinpflaster. Es sah dabei aus, als hätte es den schönsten Tagtraum ihres bisher vielleicht fünfzehnjährigen Lebens. Richard fragte sich, wie viele Gründe es in seinen über vierzig Jahren gegeben hatte, um auch nur annähernd so versonnen durch seine ehemalige Heimatstadt Unna zu spazieren.
    Erste Liebe ... die ersten Monate seiner Ehe ...
    Das Letztere verneinte er. Eigentlich hatte er schon sehr schnell gespürt, dass er und Susanne niemals ein ganzes Leben gemeinsam verbringen würden. Nach ein paar Monaten konnte er nicht einmal mehr ihre Stimme ertragen. Es hatte ihm auch nicht das Geringste ausgemacht, dass Sex über Nacht bedeutungslos wurde. Zumindest mit seiner Frau. Nach der Scheidung hatte es ein paar Affären gegeben. Dabei war nichts von der Art gewesen, für das man in Lederslips und Hundehalsbänder schlüpfte und sich obendrein dermaßen abschoss, dass der Verstand vorübergehend zu einem weich gekochten Ei degenerierte.
    Richard presste die Faust gegen die Stirn. Hinter seinen Schläfen pochte der Schmerz. So plötzlich und brutal, dass sich sein Blick verschleierte. Fast blind tastete er nach dem Sessel neben dem Fenster und ließ sich in die Polster sinken.
    Es gab einen wirklich guten Moment in seinem Leben, erinnerte er sich, während er nach den Schmerztabletten griff: Als er vor fünfzehn Jahren das erste Exemplar seines Debütromans in Händen hielt, ihn aufklappte und am Papier und dem frischen Leim schnupperte, der die von ihm gefüllten Seiten zusammenhielt.
    Richard steckte sich zwei Ibuprofen in den Mund, zerbiss sie und schaffte es die mehligen Krümel trocken herunterzuwürgen.
    Das letzte Vierteljahr in Unna war Richard vorgekommen, als hätte man ihn halb wahnsinnig durch ein Labyrinth gezerrt, in dem hinter jeder Ecke eine feixende Fratze hervorlugte oder Gestalten mehr oder weniger verstohlen mit dem Finger auf ihn deuteten. Als er im Supermarkt von ein paar jungen Burschen rüde angerempelt wurde, ließ er sich die Lebensmittel nur noch ins Haus liefern. Aber das war kein Ausweg.
    Er war berühmter als jemals zuvor. Allerdings nicht durch seine schriftstellerische Leistung, sondern durch das, was ihm widerfahren war. Etwas, das über seinen Auftritt in SM-Montur inklusive Erbrechen auf dem Schulhof einer Grundschule hinausging und die Angelegenheit für Boulevard-Blätter und die Skandal-Magazine bei den privaten Fernsehsendern zumindest für eine Weile interessant werden ließ.
    Und Richard den Aufenthalt in seiner Heimat unmöglich machte.
    Zum zwanzigsten Mal an diesem Vormittag fragte er sich: Was war damals geschehen? Wie war er in diese Situation geraten? Und vor allem: Wer hatte sich das Ganze ausgedacht?
    Richard hatte die letzten Stunden vor seinem Blackout mühsam recherchieren müssen. Es kam ihm vor, als wären Teile seines Erinnerungsvermögens einfach gelöscht worden.
    Er beugte sich vor, um einen letzten Blick auf das Mädchen mit dem Fahrrad zu werfen, dann betrachtete er das kreisrunde, blasse Mal auf seinem
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