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Zwienacht (German Edition)

Zwienacht (German Edition)

Titel: Zwienacht (German Edition)
Autoren: Raimon Weber
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verschaffen.
    Richard sprang so heftig auf, dass der Stuhl umfiel. Er holte aus und trat mit voller Wucht gegen die Wand. Er zielte auf einen Punkt direkt über der Fußleiste, wo der Abdruck seiner Schuhspitze bereits einen Schmutzfleck auf der weißen Raufasertapete hinterlassen hatte. Das Kratzen verstummte. Zumindest für eine Weile.
    Er würde noch einmal den Vermieter anrufen und darauf drängen, dass sich endlich ein Kammerjäger der Sache annahm.

Billy

    An manchen Tagen hieß der Mann Billy, obwohl er größten Wert darauf legte, dass ihn nie jemand so in seiner Heimatstadt Döbeln nennen würde. Billy klang für ihn niedlich und ... hilflos. Wie jemand, den man herumschubsen kann. Und benutzen.
    Nach dem Abendessen mit seiner Mutter zog er heimlich den Latexslip an. Er konnte sich dann nur noch in kurzen, fast trippelnden Schritten fortbewegen. Der Latex schnürte seinen Unterkörper dermaßen ein, dass eine Erektion unmöglich war und die Erregung, die er schon beim bloßen Anblick des roten Slips fühlte, so schmerzhaft im Zaum gehalten wurde.
    Seine zweiundachtzigjährige Mutter hatte heute darauf bestanden zu kochen, um wenigstens einmal in der Woche den in einer Aluminiumschale servierten und immer nur lauwarmen Gerichten aus der Großküche zu entkommen. Sie hatte Kohlrouladen gemacht. Versalzen, weil entweder ihre Geschmacksnerven nachließen oder den zitternden Händen das Dosieren nicht mehr gelingen wollte. Immer wenn Billy aufstieß, kroch der Geschmack des Kohls die Kehle hinauf. Er verabscheute das, stand dieses banale Kohlaroma doch zu sehr im Kontrast zu der schrillen und stimulierenden Welt, in die er sich in wenigen Stunden bis in den Morgen hinein begeben würde. Sekt, Wodka und Kokain würden den Mief des Alltags vertreiben. Und Schweiß, vielleicht auch ein klein wenig der Duft des eigenen Bluts.
    Er hörte den heiseren Ruf seiner Mutter aus dem Parterre. Sie schaffte die Treppenstufen in die obere Etage schon längst nicht mehr. Nach dem letzten Schlaganfall war sie an den Rollstuhl gefesselt. Es war das Herz, aber sie hatte sich dem dringenden Rat der Kardiologen eine Operation durchzuführen vehement widersetzt.
    Er akzeptierte die Entscheidung seiner Mutter, die kurze Zeitspanne, die ihr noch blieb, ohne eine solch qualvolle Prozedur verbringen zu wollen.
    Den Einbau eines Treppenlifts hatte er allerdings mit den Besonderheiten des alten Hauses abgelehnt. Sie hatte hier oben nichts zu suchen, das hier war sein Reich. Er betrachtete sich noch einmal im Spiegel seines Schlafzimmers, zog sich eine Jeans und ein Hemd über und sah ungeduldig auf die Armbanduhr. Vermutlich kam seine Mutter mal wieder nicht mit der Fernbedienung des Fernsehers zurecht und stand unmittelbar vor einer Panikattacke, weil sie Gefahr lief die ersten Sekunden von Florian Silbereisens Auftritt zu versäumen.
    „Junge!“ Als er in den Flur trat, hörte er sie erneut krächzen. Sie klang nicht drängend oder vorwurfsvoll, wie noch vor wenigen Jahren, eher kleinlaut, als wollte sie ihrem viel beschäftigten Sohn nicht zur Last fallen. Sie hatte angesichts ihres dahinsiechenden Körpers erkannt, wie wichtig er für sie war.
    Unter der Hose gab der Latex bei jeder Bewegung ein ganz leises Quietschen von sich. Es war an der Zeit, sich nach Dresden aufzumachen.

    Richard Gerling schlief nicht. Er lag auf dem Bett und sah in die Dunkelheit. Seit zwei Wochen, in denen sich der Schlaf in jeder Nacht auf höchstens drei Stunden des Dahindämmerns beschränkte, versuchte er sich einzureden, dass dieser Zustand kein Grund zur Beunruhigung darstellte. Aber jeder weitere Morgen, der viel zu früh mit hängenden Lidern und schmerzenden Gliedmaßen begann, machte ihn nervöser.
    Die Zeiger des Weckers standen auf zwanzig nach drei. Schon um zehn hatte er sich hingelegt, das Radio eingeschaltet und einen Sender mit Oldies und Schlagern ausgesucht, obwohl ihm an solcher Musik nicht viel lag. Die Lieder brachten keine Überraschungen, waren wie ein ruhiger Fluss, umrahmt von ebenso monotonen wie belanglosen Kommentaren des Moderators.
    Das Radioprogramm hatte es ermöglicht, Richard zu einem kurzen Schlaf zu verhelfen, bei dem der Verstand nicht völlig abschaltete, sondern wie in einer Art Stand-by-Betrieb verharrte. Bereit, auf jedes ungewöhnliche Geräusch zu reagieren, und wie in nahezu jeder der letzten Nächte hatte es ein solches Geräusch gegeben. Vor etwa einer Viertelstunde war irgendwo etwas sehr Schweres mit einem
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