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Zwanzigtausend Meilen unter'm Meer

Zwanzigtausend Meilen unter'm Meer

Titel: Zwanzigtausend Meilen unter'm Meer
Autoren: Jules Verne
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Moment? Ich horchte an der Thüre seines Zimmers; hörte da Fußtritte. Der Kapitän war darin; er hatte sich nicht zu Bette gelegt. Bei jeder Bewegung kam es mir vor, er werde zu mir treten und mich fragen, weshalb ich fliehen wolle! Ich empfand unablässige Beunruhigung. Meine Einbildungskraft vergrößerte sie noch. Diese Empfindungen waren so peinigend, daß ich mich fragte, ob es nicht besser wäre, in’s Zimmer des Kapitäns zu treten, ihm gerade in’s Angesicht zu sehen, mit Blick und Geberde zu trotzen!
    Ein wahnsinniger Gedanke. Glücklicherweise that ich’s nicht, und legte mich auf mein Bett, um die körperliche Aufregung in mir zu stillen. Meine Nerven wurden ein wenig ruhiger, aber bei der Ueberspannung meines Gehirns überblickte ich in rascher Erinnerung mein ganzes Leben an Bord des Nautilus, alle die glücklichen oder unglücklichen Erlebnisse seit meinem Verschwinden vom Abraham Lincoln bis zu der gräßlichen Scene des mit seiner Mannschaft versenkten Schiffes. Da erschien mir der Kapitän Nemo über die Maßen groß, als ein Charakter von übermenschlichen Verhältnissen, der seines Gleichen nicht hatte.
    Es war damals halb zehn Uhr. Ich hielt meinen Kopf mit beiden Händen, damit er nicht zerspringe. Ich schloß die Augen; wollte nicht mehr denken. Also noch eine halbe Stunde! Das Warten konnte mich zum Narren machen!
    In dem Augenblick vernahm ich die Accorde der Orgel, eine traurige Harmonie, eine unbeschreibliche Melodie, den klagenden Ausdruck einer Seele, welche ihre irdischen Bande sprengen will. Ich lauschte mit allen Sinnen zugleich, kaum athmend, gleich dem Kapitän Nemo in die musikalische Entzückung versenkt, welche ihn über die Grenzen dieser Welt hinauszog.
    Darauf erschreckte mich ein plötzlicher Gedanke. Der Kapitän Nemo befand sich in dem Saal, durch welchen ich kommen mußte, um zu entfliehen. Hier sollte ich ihn zum letzten Male treffen. Er würde mich sehen, vielleicht mit mir sprechen! Eine Bewegung von ihm konnte mich vernichten, ein einziges Wort mich an seinen Bord fesseln!
    Indessen war es gleich zehn Uhr. Der Zeitpunkt war gekommen, wo ich mein Zimmer verlassen und zu meinen Gefährten mich begeben mußte.
    Es war nicht mehr zu zögern, sollte auch der Kapitän Nemo mir entgegen treten. Ich öffnete behutsam meine Thüre, und doch schien mir’s, als knarrte sie in den Angeln. Vielleicht bildete ich mir’s auch nur ein.
    Ich schlich weiter durch die dunkeln Gänge des Nautilus, hielt bei jedem Schritt inne, um mein Herzklopfen zu unterdrücken.
    Als ich an der Eckthüre des Salons ankam, öffnete ich leise. Der Salon lag in tiefem Dunkel; die Accorde der Orgel klangen schwach. Der Kapitän Nemo befand sich da, sah mich aber nicht. Ich glaube sogar, bei hellem Tageslicht hätte er mich nicht bemerkt, so sehr war er in Entzücken versunken.
    Ich schlich auf dem Teppich und vermied das geringste Geräusch, das meine Anwesenheit verrathen hätte. Ich brauchte fünf Minuten, um zu der Thüre zu gelangen, welche zur Bibliothek führte.
    Ich war im Begriff, sie zu öffnen, als ein Seufzen des Kapitäns mich an der Stelle fesselte. Er stand auf, kam auf mich zu, mit gekreuzten Armen, schweigend, schwebend wie ein Gespenst. Er schluchzte aus gedrückter Brust, und ich hörte ihn murmeln – die letzten Worte, die ich aus seinem Munde vernahm:
    »Allmächtiger Gott! Genug! Genug!«
    War’s ein Ausdruck von Gewissensbissen? …
     

    Mitten im Strudel. (S. 458.)
     
    Ganz bestürzt eilte ich in die Bibliothek. Ich stieg die Mitteltreppe hinauf und gelangte durch den oberen Gang zum Boot. Durch die Oeffnung, welche bereits meinen beiden Gefährten gedient hatte, stieg ich ein.
    »Fort nur! fort! rief ich.
    – Im Augenblick!« erwiderte der Canadier.
    Die in dem Eisenblech des Nautilus ausgeschnittene Oeffnung wurde erst geschlossen, und mit einem englischen Schlüssel, den sich Ned-Land zu verschaffen gewußt hatte, zugeschraubt. Eben so auch die Oeffnung des Bootes, und der Canadier fing an die Schrauben zu öffnen, welche uns noch am unterseeischen Boot fest hielten.
    Da vernahm man plötzlich ein Geräusch innen; Stimmen in lebhaftem Wortwechsel. Was gab’s? Hatte man unsere Flucht gemerkt? Ned-Land steckte mir stille einen Dolch in die Hand.
    »Ja! murmelte ich, wir werden zu sterben wissen!«
    Der Canadier hatte mit seiner Arbeit inne gehalten. Doch ein Wort, zwanzigmal wiederholt, ein fürchterliches Wort, enthüllte mir die Ursache dieser unruhigen Bewegung an Bord
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