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Zurück in die Zwischenwelt (German Edition)

Zurück in die Zwischenwelt (German Edition)

Titel: Zurück in die Zwischenwelt (German Edition)
Autoren: Filomena Nina Ribi
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Gefühle traten dann mit einer Gewalt und Stärke zutage, die sie vollkommen überraschte – besonders dann, wenn sie schon lange nicht mehr an ihren Vater gedacht hatte und überzeugt war, die Trauer nun definitiv überstanden zu haben.
    Es waren oft „unbedeutsame“ Details, die sie an ihre Lebensgeschichte erinnerten. Weihnachten war für sie seltsamerweise gar kein Problem – hörte sie aber von einem Hochwasser, dann konnten die Erinnerungen wieder hochkochen. Nein, Ernst hatte mit dem Hochwasser nicht direkt etwas zu tun – aber Fiona.
    Sie hatte damals in einer Stadt am Fluss gewohnt, als das wenige Meter entfernte Gewässer übertrat. Sie hatte den ganzen Abend lang geholfen, den seltsamen Nachbarn, die im Parterre unter ihr wohnten, die Möbel und Kartonkisten in ihre Wohnung heraufzutragen, wo sie für zwei Tage gelagert werden sollten, solange die Hochwassergefahr andauerte. Die Sirenen erklangen andauernd, um die bestehende Gefahr zu signalisieren. Vor dem Hauseingang wurden Sandsäcke platziert und die ganze Nacht lang lärmten Kettensägen und Bagger, die das angespülte Holz zu zerstückeln und wegzutransportieren versuchten.
    Am Morgen danach hatte ihr Vater sie angerufen. Die Bilder des Hochwassers waren in der Tagesschau gewesen und wahrscheinlich wollte er nachfragen, wie es ihr ginge. Sie hatte aber seine Telefonnummer auf dem Display erkannt und beschlossen, den Hörer nicht abzunehmen. Sie wusste, er würde sie bei dieser Gelegenheit auch nach ihrer Arbeit fragen – nach der Arbeitsstelle, die sie noch gar nicht hatte …
    Einige Wochen später war Fiona in die Berge gereist – es war September gewesen. Während eines Tagesausflugs wanderte sie auf einer hochgelegenen Ebene. Nur ein paar vereinzelte Grashalme wuchsen hier und graue Steine lagen überall verstreut: die Reste eines Gletschers. Ein kleines Wasserrinnsal durchquerte das kahle Plateau. Der hellblaue Himmel war von zahlreichen langen weißen Linien durchkreuzt, denn an diesem Tag lösten sich die Kondensstreifen der Flugzeuge nur langsam auf. Die vielen geraden Linien ließen das Gesamtbild fast unecht aussehen. Fiona beeindruckte das besonders. Sie zog sich die Kapuze ihres Sweaters über den Kopf und legte sich zwischen zwei dürre Büschel langer Gräser. Dann blickte sie in den Himmel und folgte mit den Augen jeder weißen Linie bis zu dem Punkt, an dem sie sich auflöste.
    Es war ein sonniger Tag und trotzdem ließ etwas bei ihr Wehmut aufkommen. Sie wusste nicht, warum, woher oder wieso – dieses traurige Gefühl war einfach da. Als sie sich wieder aufsetzte, sah sie das Ende eines rosaroten Quarzes aus der Erde herausragen. Sie grub ihn aus und stellte fest, dass es sich um einen zwanzig Zentimeter langen Kristall handelte. Er hatte die Form eines Stiftes.
    „Dieser Stein ist für dich, Ernst“, sagte sie laut, „er repräsentiert dich als Vater. Ich begrabe ihn jetzt, um von neuem anzufangen und dir nicht mehr als Vater, sondern als Mensch begegnen zu können. Ich will nicht mehr nachtragend sein. Lass uns unsere Probleme und gegenseitigen Erwartungen begraben und ganz neu anfangen.“ Mit diesen Worten grub sie den wunderschönen Kristall wieder ein, statt ihn mitzunehmen.
    In diesem Augenblick schien ihr das passend und diesen Moment vergaß sie auch nie wieder. Aus ihrem Ferienort schrieb sie Ernst eine Postkarte und er antwortete später ebenfalls mit einer Postkarte aus seinen Ferien. Fiona interpretierte das als ein Friedenszeichen nach so vielen Jahren Streit. Sie dachte, sie hätte die Zeit, die sie benötigte, um die Beziehung zu ihm wieder zu reparieren – aber es war der September von genau jenem Jahr gewesen, in dem er dann im November gestorben war. Und es war sein letzter Telefonanruf gewesen, den sie nicht angenommen hatte – das würde sie ihr ganzes Leben lang bereuen.
    Aber zum Glück ging die Zeit vorüber und ihre Trauer kam immer seltener zum Vorschein. Nach dem Umzug zurück in die Schweiz hatte sie ganz neu angefangen, indem sie eine Arbeit in einer komplett anderen Branche annahm und sich – vielleicht zum ersten Mal in ihrem Leben – erfüllt und zufrieden fühlte. Sie hatte ihr Leben so akzeptiert, wie es war; es schien, als habe sie sich endlich gefunden und ihre Rastlosigkeit abgelegt.
    „Was ist das für eine Maske?“ Giacomo zeigte auf den Kamin.
    „Ah, die Maske – die habe ich geschenkt bekommen, sie stammt aus Indonesien. Es sollten eigentlich zwei sein, ich habe aber nur
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