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Zum Tee in Kaschmir

Titel: Zum Tee in Kaschmir
Autoren: Nazneen Sheikh
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darüber hinaus überwachte meine Mutter auch unsere Fortschritte aufs Genaueste und kam immer wieder zu kurzen Kontrollbesuchen ins Zimmer. Ich konnte unseren Lehrer nicht ausstehen. Er war ein völlig unnahbarer und verbitterter Mann. Sein Unterricht war unglaublich stupide, aber wir hatten unserem Lehrer gegenüber großen Respekt zu zeigen und durften seine Lehrmethode keinesfalls in Frage stellen. Und so verdunkelte, wenn er auf seinem Fahrrad unsere Auffahrt herauffuhr, jedes Mal ein Gefühl der Angst meine ansonsten so unbeschwerte, sonnige Kindheit.
    Mein Bruder hingegen begegnete der Situation mit der für ihn typischen Pflichtvergessenheit und verschwand während des Unterrichts einfach öfter für längere Zeit auf der Toilette. Aus irgendeinem Grund schien das unseren Lehrer nicht im Geringsten zu stören, und so musste ich mich dann stets allein durch die Suren kämpfen. Jeder Fehler, den ich machte, wurde mit einem eisigen, missbilligenden Blick geahndet, der mehr als deutlich zum Ausdruck brachte, dass ich gerade ein Sakrileg begangen hatte. Von dieser unerträglichen Last wurden wir während des mehrstündigen Unterrichts immer nur für kurze Zeit befreit, nämlich dann, wenn das Teetablett hereingetragen wurde. Dann verspeiste unser Lehrer, der offensichtlich mit einem gesunden Appetit gesegnet war, einen ganzen Teller voller pikanter und süßer Happen und trank dazu eine Kanne Tee, während wir uns weiter mit der arabischen Schrift herumschlugen. Einmal jedoch standen auch drei Tonschälchen mit Firni auf dem Teetablett. Die Großzügigkeit meiner Mutter einem Menschen gegenüber, den ich als meinen Peiniger betrachtete, empörte mich zutiefst. Meiner Meinung nach wäre ein Becher Schierling eher angemessen gewesen.
    Der Lehrer kratzte mit dem Rand des Löffels an der ersten Schale entlang und schob sich dann einen Bissen Firni nach dem anderen in den Mund. Der Duft des Rosenwassers, mit dem das Dessert aromatisiert war, hing im Raum. Ich rezitierte mehrere Textzeilen und warf unserem Lehrer dabei immer wieder einen nervösen Blick zu. Als er das zweite Schälchen geleert hatte, war der grimmige Ausdruck aus seinen Augen fast verschwunden, und auch seine Haltung war wesentlich entspannter. Schweißperlen standen auf seiner Oberlippe. Nach dem dritten Schälchen vernahm ich aus dem Munde des Lehrers mit kehliger und zugleich leidenschaftlicher Stimme die arabischen Worte: »Shukr-al-hamdu-lila«, was »Gott sei gedankt« bedeutet. Und dann geschah ein Wunder. Er lächelte mich zum allerersten Mal an, und gab mir sogar einen Hinweis, wie ich die Buchstaben flüssiger miteinander verbinden konnte. Drei Monate später rezitierte ich dann auf einer Familienfeier, bei der ich nicht nur mein erstes richtiges Schmuckstück geschenkt bekam, sondern auch etliche Schälchen Firni verputzte, mit tadelloser Aussprache mehrere Verse aus dem Koran.

    In meinem späteren Leben wählte ich einen sichereren Weg. Meine brillante Mutter hatte stets versucht, ihre Desserts mit einem geheimnisvollen Nimbus zu umgeben. Ich servierte genau wie sie in der Regel Obst als Nachspeise und bereitete, wenn dies erforderlich war, schnell und effizient ein Schokoladensoufflé oder eine Crème brûlée zu. Um mich in meiner kanadischen Küche an Firni zu wagen, fehlte mir weiterhin der Mut. Ich war davon überzeugt, dass mein kaschmirisches Erbe samt seiner prächtigen Mogul-Vergangenheit in der Erinnerung an dieses eine Dessert eingeschlossen war, welches ich in meinem kanadischen Zuhause nicht zum Leben zu erwecken vermochte.
    Nach dem Tod meines Vaters gab ich mich oft schmerzlichen Tagträumereien hin. Ich hatte das Gefühl, den Anker verloren zu haben, der mir in der fernen Heimat Halt gegeben hatte. Dann wurde ich eines Morgens, es war der Tag vor dem Ramadanfest, von Erinnerungen an meinen Vater geradezu überwältigt. Ich rief meine Mutter in Pakistan an und fragte ganz beiläufig, wie sie Firni zubereitete. Nachdem sie mir alles genau erklärt hatte, beendete sie das Gespräch mit dem Hinweis: »Du musst die Masse ständig rühren, damit sie nicht am Boden festklebt. Wenn auch nur ein Löffel davon anbrennt, verdirbt das den Geschmack.«
    Ich setzte mich sofort in mein Auto und machte mich auf den Weg in die Innenstadt von Toronto, wo es eine Straße gab, in der sich ein asiatisches
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